Eine musikalische Autobiographie
ÜBER DIE AUTORIN
Elke Piechatzek ist 61 Jahre alt und arbeitet seit 17 Jahren in der Öffentlichkeitsarbeit. Sie ist Mutter eines Pflegesohnes und lebt in ihrem "Traumhaus, das aus einem Traumahaus entstanden ist". Nach einem Herzinfarkt und dem Tod ihrer Eltern begann sie, ihr Leben neu zu komponieren - zwischen den Tönen der Vergangenheit und der Melodie ihrer eigenen Zukunft.
Widmung
Für meinen Vater, der mir große Töne näher
brachte
Für meine Mutter, die mir zeigte, dass Königinnen in allen
Frauen stecken
Für meine Geschwister, die ihre eigene Tonart fanden und so
wunderbar klingen
Für einen Pfarrer, der mir meine Musik zeigte
Für meinen Ex-Mann, aus dessen Bauplänen mein Zuhause
wurde
Für meinen Sohn, der die perfekte Antwort auf die Frage
nach der Liebe hatte
Für alle Männer, die mir begegneten - sie waren Lektion
oder Geschenk
Für meine tollen Freundinnen, die, wie Frauen so sind, da
sind, wenn es drauf ankommt
Inhaltsverzeichnis
Diese Woche hab ich meinen Sohn gefragt - so als Test. Die
gleiche Frage, die ich früher meinem Ex-Mann aus Unsicherheit
immer wieder gestellt hatte: "Hast du mich noch lieb?"
Mein Ex antwortete stets: "Wenn ich Zeit habe."
Wenn ich Zeit habe. Als wäre Liebe eine Aufgabe auf
seiner To-do-Liste. Als wäre ich ein Termin, den man
einschieben muss zwischen wichtigeren Dingen.
Mein Sohn antwortete: "Natürlich!"
Ein Wort. Aber es ändert alles.
Kein Zögern, keine Bedingungen, keine grausamen Spielchen. Für ihn ist es selbstverständlich - so selbstverständlich, dass die Frage fast überflüssig scheint.
Danke dir, lieber Sohn Juli 2025
Wie alles begann… Tod und Leben
"Vermutlich hätte mein Vater gesagt, es geht in der Kirche um Gott und Jesus und nicht um Menschen, und seine Frau hätte gesagt, macht nicht soviele Worte und Gedöns."
So habe ich am 24. Juli 2022 das Gedenkkonzert für meine Eltern eröffnet. Wenige Wochen nach ihrem Tod - sie waren am 4. Juni beerdigt worden - stand ich in einer großen Kirche. Drei Chöre machten wunderbare Musik, während ich nach Worten suchte für ein Leben zwischen den Tönen - zwischen seiner großen Musik und ihrer eigenwilligen Hingabe, zwischen Träumen und Realität, zwischen Gott loben und Butterbrezeln schmieren.
Sie starben, wie sie gelebt hatten - er konnte nicht ohne sie. 70 Stunden nach dem Tod meiner Mutter stand mein Vater einfach nicht mehr auf, schlief friedlich ein in der Kurzzeitpflege. "Man könnte meinen, auch das hat sie für ihn vorbereitet", sagte ich damals. "Ich stelle mir vor, dass die beiden auch da, wo sie jetzt sind, noch einiges miteinander zu klären haben, wie immer - in irgendeiner Küche bestimmt, bei Kaffee oder einem Glas Wein... diskutierend."
Das war mein Leben - zwischen diesen beiden Tönen aufzuwachsen, die so unterschiedlich klangen und doch zusammen eine Melodie ergaben. Aber es waren komplizierte Harmonien, voller Dissonanzen und unerwarteter Wendungen.
Sie lernten sich durch die Musik kennen, begegneten sich wieder. Angeblich haben sie zusammen das Brahms-Requiem besucht und sich dabei verliebt. Er 22, sie 16. Er der Sohn eines Chrischona-Predigers, fromm und einfach aufgewachsen. Sie die Tochter zweier Lehrer, ihre Mutter hatte sogar Abitur gemacht vor dem Krieg. Sie wollte raus aus der bürgerlichen Lehrerwelt. Sie wollte einen Künstler heiraten, wollte Musik, wollte "was Besonderes haben". Mit sechzehn folgte sie diesem Mann, der sechs Jahre älter war und von großer Musik träumte.
Und wie wenig künstlerisch war ihr Dasein dann.
Der junge Kantor kam 1960 in meine Heimatstadt, 26 Jahre alt, frisch vom Kirchenmusikstudium in Heidelberg - irgendwie hinbekommen nach der Volksschule, die für ihm 5. Schuljahr Jahr mit dem Krieg endete. Er machte eine Drogistenlehre und träumte von der Musik. Die Aufnahmeprüfung schaffte er, weil ein Professor sein Potential erkannte und ihn zum Üben wegschickte und dann doch aufnahm. Er war der "Boy seines Professors" und erzählte uns später, er habe sich jedes Mal übergeben, bevor er sich sonntags auf die Orgel setzte. Dass er mal eine Kantate dirigieren würde, war eher Traum als Realität.
Meine Mutter brauchte noch die Unterschrift ihres Vaters, um den jungen Musiker zu heiraten. Was aus ihr werden sollte - das stand zwischen den Tönen seiner Träume. Mit 20 geheiratet, mit 21 Mutter, mit 24 Jahren kam ich als drittes Kind zur Welt. Die kleine Schwester folgte nach dem Hausbau 7 Jahre später.
Papa war täglich unter Stress, weil er Unglaubliches produzierte für jemanden seiner Herkunft. Bei den Handwerkern, Bauern und Chorleuten war er "der große Mensch" - er kannte alle Telefonnummern der Chorleiter auswendig, fuhr mit dem Fahrrad durchs Land (bis der Dekan einen Führerschein verlangte), Plakate auf dem Gepäckträger. Er gründete und übernahm Chöre und entwickelte Konzertreihen aller Art. Aber in der intellektuellen Welt kam er nicht zurecht. Als er in der Landessynode war, dem obersten Gremium der Landeskirche, konnte er sprachlich nicht mithalten. Seine Antwort war, zu Hause umso mehr sich zu verausgaben und den Ton für alle anzugeben. Mein Vater wuchs an seinen Aufgaben und 1980 dirigierte er zum ersten Mal selbst das Brahmsrequiem. Was für ein Leben, das des Meisters der großen Musik.
Für ihn gab es keine falsche Musik zu Gottes Lob. Als ich später als Popmusik-Beauftragte arbeitete, sagte Mama immer noch: "Mein Gott hört nur Bach" und "die singen alle nicht richtig." Aber er nahm mich zur Seite: "Jede Musik ist richtig für Gott. Wenn ich mehr davon verstehen würde, würde ich noch ganz andere Sachen machen."
Zwölf Chöre pro Woche dirigierte er, jeden Tag nach den
Klavierschülern zu Proben am Abend aus dem Haus, nachts zurück.
Zweimal die Woche ging er vor dem Mittagessen ins Schwimmbad -
1000 m schwimmen, seine Erholung, während Mama das Essen
vorbereitete oder die Alten im Haus pflegte, die
‚selbstverständlich‘ später bei uns im Haus pflegebedürftig
waren und versorgt wurden. Die Kinder sammelte Papa nach dem
Schwimmen vor der Schule ein, "damit alle da sind zum
gemeinsamen Essen", das manchmal einem Pulverfass glich wegen
der Spannung in der Luft, aber immer mit einem frommen
Andachtszettel endete, den erst Papa und später auch ich
vorlas.
Dann warf uns Mama aus der Küche, machte den Abwasch und legte
sich hin, bis es Kaffee gab um 15:30 Uhr mittags, auch für die
Klavierschüler, die zuerst 40 an der Zahl waren jede Woche,
damit das Geld reichte. Kaffeeduft und Zigarettenrauch und
alles erzählen können, das war Mamas Anwesenheit im Haus.
Diese kleine Mittagsruhe kurz vorm Kaffee, das war ihre Stunde am Nachmittag - das war ihre einzige Zeit für sich selbst. Ansonsten war sie für die anderen Leute da, bevor sie so kurz nach 20 Uhr auf der Couch einschlief.
Meine Mutter war eine ungekrönte Königin, eine typische Frau in den 60/70ern. Zuarbeiten, sorgen, dass die Meister und Herren der Welt es angenehm hatten.
Die heimliche Leitung vieler Unternehmer dieser Zeit, sie waren ungekrönte Königinnen, weil nie jemand sagen würde, "das ist die wahre Herrscherin im Hintergrund".
Mama war diejenige, die Schreibmaschine schreiben konnte. Das hieß: Wenn er Programme machte, tippte sie auf einer alten Schreibmaschine. Sie war seine gesamte Infrastruktur - schrieb, organisierte, schmiss das Büro des Kantors, war Chormutter für alle, kochte 40 Klavierschülern Kaffee und quatschte mit allen. Nie bekam sie einen Pfennig dafür.
Sie war einige Jahre im Ältestenkreis und durfte ein bisschen mitentscheiden, aber im Grunde war sie dort "seine Stimme" - die Vertreterin seiner Ideen, während er den Applaus bekam. Ihren kleinen Kaffeeklatsch in der Nachbarschaft - sie siezten sich bis zuletzt - diese Damen, war das einzige, was sie für sich hatte. Papa fand das "unnötig; dass sie jetzt außer Haus mit diesen Weibern tratscht, die von nix eine Ahnung haben."
Mama war eine weise Frau irgendwie, sie war klug, und kam in der intellektuellen Welt besser zurecht als er. Aber er bekam die Bühne. Sie den Haushalt und die Kinder.
Sonntags nach dem Gottesdienst - wir alle waren jeden Sonntag oben auf der großen Empore der Kirche nahe beim Kantor, bei den "besonderen" Leuten, nicht unten "beim Volk" und sangen mit den Chorleuten, die da waren - die Liturgie, wenn nicht eh wieder was aufgeführt wurde. Dann gingen wir nach Hause zum Mittagessen, das Mama bereits vorgekocht hatte am Samstag. Danach war Predigtnachbesprechung am Küchentisch.
Papa erklärte uns dann, dass der Pfarrer wieder nicht genug von Jesus und seiner Erlösung für uns erzählt hatte. Wenn Mama dann was sagte, fuhr er ihr barsch über den Mund. Er wisse schon, was wichtig sei im Leben und im Glauben.
Mama machte dann den Haushaltstrick, sagte "jetzt haben wir lange genug gequatscht, wer liest die Andacht", holte sich einen Aschenbecher und zündete sich schonmal eine Zigarette an. Naja das tat sie solange bis unser Prediger-Opa ins Haus zog, wegen der Pflege seiner Frau, die wieder unsere Mutter übernahm. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob wir vorher Andacht gehalten hatten. Aber seitdem auf alle Fälle. Als der Prediger-Opa im Hause war, mutierte meine Mama zu einer anderen. Sie verschwand heimlich rauchend in einer Speisekammer. Sie wurde kleinlaut und hat sich mehr als einmal bei uns Kindern ausgeheult, dass alles so viel sei. Währenddessen kamen fromme Besucher, die für meine sterbende Oma beteten und wieder Kaffee bekamen von der Mutter aller Menschen, die zu uns ins Haus kamen. Mama entzog sich der Heuchelei, indem sie einfach ihren Haushalt durchzog und auf Einhaltung der Zeit achtete.
Ich erlebte meinen Vater also in Chorproben, Ton angebend am Küchentisch oder als "das Kind auf der Orgelbank". "Ich hab keinen Vater, der ist Kantor" war mein geflügeltes Wort dafür. Und wenn er weg war zu Proben war meine Mutter, die Königin. Ohne ihn bestimmte sie, was lief. Das nutzte sie auch ziemlich aus.
Als ich 17 oder 18 Jahre war, kam die Visitation - die Kirchenleitung zu Besuch, Papa bot alles auf, was er hatte. Der Dekan nannte das übrigens die "Streitmacht Kirchenmusik". Der junge intellektuelle Dekan kam nicht zurecht mit dem alten Haudegen, der mein Vater war. Und dem ging das gehörig gegen den Strich, war er doch inzwischen die Kulturgröße der Kleinstadt. Und natürlich war ihm wichtig beim Kirchenleitungsbesuch, dass jemand seine Heerscharen von Musikern ordentlich würdigte und damit auch ihn.
Wer steht auf und stellt die unbequemen Fragen? Mitten im Saal, Ich. Ich fragte, ob eigentlich irgendjemand mal das ehrenamtliche Engagement all dieser vielen Leute sieht. Ich stellte die Fragen, die er nur zu Hause am Küchentisch gestellt hatte. Mama war wohl wieder irgendwo hinten rum lästern oder Essen richten.
Das war der Anfang meines "die Stimme erheben". Warum tat ich das nur? Hab ich oft getan im Leben, das gesagt, was andere störte und selbst dafür den Kopf hingehalten.
Die Chorfahrten an den Wochenenden jedes beginnenden Jahres, waren die Highlights meiner Jugend. Wir fuhren in den Schwarzwald und probten da und waren im Schnee unterwegs. Auch bei den Proben war mein Vater der Chef, der dominierte, was gab es da "manches Donnerwetter". Vor allem, wenn zuviel Alkohol getrunken wurde. Er konnte brüllen, auch vor versammelter Mannschaft, während Mama im Hintergrund dann mit allen redete, damit nix eskalierte oder eben mitschürte am Konflikt, ne nachdem was ihre Meinung war. Was für eine unheilige Stimmung gab es oft, wenn man beide gut kannte und spürte, wie sie beide irgendwie ihren Platz behaupten wollte. "Pulverfass" - das sagten nicht nur wir Kinder, so fühlten sich viele Menschen in ihrer Nähe, wie auf einem Pulverfass. Es war eigenwillig, weil all das eingebettet war in großartige Musik. Ich höre heute noch den Klang, als wir Choräle vierstimmig singend durch den Schnee stapften und einkehrten im "Frieden" - so hieß das Gasthaus wirklich.
Ein altes Kurhaus war unser Tagungshaus. Hinten durch den Park, gab es ein zweites Gebäude, die "Weiße Villa" wo alle Jugendlichen untergebracht waren, bis auf die Kantorenkinder, die mussten ins Haupthaus. Einmal war ich heimlich bei den anderen Jugendlichen und versteckte mich im Schrank, als Papa zur Kontrolle kam. 2 Uhr nachts. Er erwischte mich - Riesengeschrei. Die nächsten Wochenenden durfte ich nicht mitfahren. Das war die schlimmste Strafe für uns Kinder, weil diese Fahrten unser Leben waren. "Wir sind anders als die anderen" - das war die Erkenntnis unseres Aufwachsens als Kantorenkinder.
Meine Eltern waren so unterschiedlich und zwischen ihnen zu leben war sich einfinden auf dem Pulverfass. Bloß nicht zündeln und zu laut dazwischen gehen, vorsichtig, klug formulieren. Das habe ich damals gelernt. Aber auch noch was anderes. Ihr beider Leben war voller rührender Momente des Kümmerns, es war voller großartiger Musik, es waren so viele Menschen in dieser Chorfamilie. Wir haben gesungen bei Beerdigungen und Hochzeiten. Wir haben gelacht und geweint und viel getratscht mit Mama, und wir vier Kinder hatten eben auch jeder von uns so vier bis fünf Chortermine die Woche. Meine Eltern haben nicht gefragt, wann es zu viel wird. Sie haben einfach gemacht und sich vor nichts gedrückt, oft über die eigenen Grenzen hinweg. Heute ist mir bewusst, wie sehr diese Haltung mich und andere überforderte.
Als mein Papa bereits mit 60 Jahren vor allem wegen dem Konflikt mit dem Dekan in den vorgezogenen Ruhestand ging - nach der zweiten Aufführung des Brahms-Requiems, mit dem alles angefangen hatte - verstand ich: Das Leben spielt sich zwischen den Tönen ab. Zwischen den großen Momenten der Musik und den stillen Momenten des Kümmerns. Zwischen Träumen und Pragmatismus. Zwischen "Gott loben" und "macht nicht soviel Gedöns". Zwischen Donnerwetter und in Frieden einkehren.
Das bin ich heute - ein eigenes Gewächs aus ihren Tönen. Mit seinen Träumen und ihrer Bodenständigkeit. Mit seiner Musik und ihrem Pragmatismus. Mit dem Mut, die Stimme zu erheben - für ihn bei der Visitation, für sie am Küchentisch, für andere in meinem Leben.
Zwischen den Tönen komponiere ich mein eigenes Leben.
So waren die beiden - und so bin ich geworden.
Es gibt noch eine andere Melodie, eine andere Sichtweise auf meine Eltern. Bei der kleinen Beerdigung am 4. Juni hielt eine Enkelin ihre Trauerrede - voller Liebe und ohne die Dissonanzen, die ich als Tochter gehört hatte. Witzigerweise erzählte sie liebevoll von den Andachtszetteln: "Bei den Großeltern wird vor dem Mittagessen gebetet und nach dem Mittagessen gelesen. Dabei haben die Losungen eine Vorderseite und eine Hinterseite. Eine Seite bezieht sich auf die Bibel und die andere Seite erzählt von einem weltlichen Bezug."
Was sie so süß fand - ich hatte es furchtbar gefunden, diese Losungen nach den Küchentischstreits vorlesen zu müssen. Für sie waren es liebevolle Rituale ihrer Großeltern, für mich waren sie Teil der Machtkämpfe am Familientisch. "Meine Oma macht grandiose Linzertorte. Bei meiner Oma gibt es für die Enkel selbstgemacht Marmelade, Eszet-Schnitten und Butterbrezel zum Frühstück. Der Geruch von Kaffee und ihrer ersten Zigarette hängt dabei noch in der Luft.
Meine Oma macht den besten Kartoffelsalat der Welt. Das sage nicht nur ich, das sagen auch diejenigen, mit denen ich die eingepackten Reste geteilt habe. Meine Oma liebt Krimis. Auch wenn sie dabei immer einschläft - Aber genau dann wieder aufwacht, wenn der Täter gefasst wird. Meine Oma ist die Königin der Konversation. Keine Schlange am Bäcker, keine ausgesperrte Rauchergruppe vorm Lokal schweigt sich an, wenn sie da ist. Meine Oma kann mit Menschen. Meine Oma findet dabei immer die richtigen Worte."
Und über Papa schrieb sie: "Meinem Opa war Musik wichtig. Mit Musik Gott zu loben. Mein Opa hat dieser Überzeugung sein Leben gewidmet. Und seine Überzeugungskraft war ansteckend. Er hat viele berührt, in seinem Glauben mitgerissen und Spuren hinterlassen."
Am Schluss fand sie das perfekte Bild: "Recht passend finde ich, um beide zu beschreiben. Vorder- und Rückseite einer Einheit. Eine Einheit, die erfüllt war mit Nächstenliebe, Treue, Hoffnung, Glaube an die Erlösung und an den Frieden."
Die Enkelin sah sie als harmonische Einheit - ich erlebte sie in ihrer komplexen, widersprüchlichen Menschlichkeit. Beide Sichtweisen sind wahr. Das ist vielleicht die wichtigste Lektion: Menschen sind mehr als eine Melodie. Sie sind ganze Symphonien - mit Harmonien und Dissonanzen, mit lauten und leisen Tönen.
Ich komponiere mein Leben zwischen allen diesen Tönen.
"Wir brauchen 1000 Butterbrezeln!", verkündete Papa am Esstisch mit der gleichen Würde, mit der er sonst Bachs Choräle dirigierte.
Mama legte die Gabel hin. "Ist dir klar, was das bedeutet? Da muss man Butter zu haben Buttermesser und Leute, die das machen. Geld wird nicht genug da sein, um die fertig zu bestellen, richtig?"
"Ja, ist ja nur für die Generalprobe mit dem Orchester, sind wir schon mehr als 150 Leute. Du weißt, das Wochenende mit Elias, am Tag selbst brauchen wir dann auch was zu Essen. Wie wäre es mit belegten Broten. Bestell die auch gleich mit, könnt Ihr ja dann auch fertig machen in der Küche während der Orchesterprobe am Aufführungstag."
Es war wieder soweit. Der große Kantor plante sein nächstes Konzert - diesmal Mendelssohns "Elias" - und wie immer dachte er nur an den Glanz, nicht an die Arbeit dahinter. In seinem Kopf sah er bereits die ehrfürchtigen Gesichter des Publikums, hörte den Applaus, spürte die Anerkennung für seine künstlerische Leistung.
Mama kannte das Spiel. Hinter jedem seiner musikalischen Triumphe stand eine ganze Familienproduktion. Wir alle würden wieder dabei sein - jeder mit seiner Rolle. Die Kleine würde mit mir Nummern auslegen in den Kirchenbänken für den Kartenverkauf, der Sohn und die Große Programme falten und die Kasse organisieren. Danach ab in die Küche zum Team, das gefühlt 1000 Butterbrezeln schmierte, war wohl etwas übertrieben die Zahl, aber irgendwie auch typisch für die Mengen, die immer zu regeln waren. Mitgeprobt und gesungen haben wir natürlich auch, die drei Töchter, der Sohn und Mama.
"Das wird wunderbar!", schwärmte Papa weiter, völlig taub für alle praktischen Einwände. Er war schon ganz in seiner Welt - der Welt der großen Musik, der erhabenen Kunst, der himmlischen Klänge. "Weißt du eigentlich, was das immer bedeutet? All das Richten und die Chorleute haben echt auch genug zu tun. Schätze wir sind wieder wenige", versuchte es Mama noch einmal.
Ich spürte, wie die vertraute Spannung aufzog. Mama wurde zur Provokateurin, wenn sie nicht genug Raum für Selbstverwirklichung hatte. Die Butterbrezeln waren ihr Kampfplatz - das einzige Terrain, wo sie ihre Frustration zeigen konnte, ohne die große künstlerische Vision zu zerstören.
Ich konnte nicht still dabei sitzen. Die Worte kamen automatisch: "Papa, was ist jetzt mit Geld für die Brezeln und belegten Brote? Müssen wir wieder alles in Handarbeit machen? Mama hat recht. Das müssen wir gut planen, wir müssen ja auch mitsingen und sind schon in der Kirche mit allerlei beschäftigt."
Das war meine Rolle - die Diplomatin, die Übersetzerin zwischen seinen Träumen und ihrer Realität. Ich konnte seine Begeisterung spiegeln und gleichzeitig ihre berechtigten Sorgen ernst nehmen.
Papa schaute mich irgendwie verwundert aber auch stolz an. Sein kluges Mädchen, das immer an alles dachte! Mama seufzte. Sie wusste genau, was ich da tat - und wahrscheinlich war sie ein bisschen neidisch auf meine Gabe, gehört zu werden.
"Männer ertragen keine klugen Frauen", hatte sie mir schon oft zugeflüstert. "Sei nicht so deutlich." Aber bei Papa funktionierte es - er bewunderte meine Worte, auch wenn ich bis heute nicht weiß, ob er wirklich verstand, was ich tat.
Drei Wochen später standen wir alle in der Küche. Jeder hatte seine Rolle: Nummern auslegen, Programme falten, Butterbrezeln schmieren. Ich hasste das Praktische - ich war die Texterin, die Entertainerin, die alle zum Lachen brachte. Meine Geschwister meckerten: "Du drückst dich vor der eigentlichen Arbeit!" Also hab ich eingeteilt, bin hier und her gerannt zwischen Küche und Proben, hab gefragt, wer was braucht.
Ich hatte längst meine eigene Aufgabe gefunden. Während sie schmierten und falteten, behielt ich den Überblick.
Viel später dann hab ich lieber Andachten gemacht, als mitgearbeitet. Ich konnte das übliche religiöse Gesülze als Zuckerguss über die Familienkonflikte einfach nicht ertragen. Die Goldene Hochzeit meiner Eltern ist mir lebhaft in Erinnerung. Alle Kinder fuhren mit in den Schwarzwald wieder, um das festlich zu begehen. Als wir überlegt haben, ob wir diese Ehe überhaupt feiern konnten, schrieben mein Bruder und ich lieber selbst, als merkwürdige fromme Sprüche abzuspulen.
Zurück zum Konzert.
Der "Elias" wurde ein großer Erfolg. Papa strahlte im Applaus, das Publikum war begeistert von der großen Musik des großen Kantors. Keiner sah die geschmierten Butterbrezeln, die gefalteten Programme, die Aufräumarbeit, das Stellen der Chorpodeste - die Müdigkeit, die nicht vom Applaus kam, sondern vom wirklich langen Zusammenarbeiten.
Die Familie wusste: Hinter jedem Glanz steht eine ganze Wahrheit. Und manchmal braucht es jemanden, der zwischen den Träumen und der Realität übersetzt - zwischen 1000 Butterbrezeln und der Himmelsstürmer-Vision eines Kantors, der vergessen hatte, dass auch Engel praktische Probleme haben.
Das war meine erste Lektion in "sich selbst komponieren": Du kannst die Musik machen, aber vergiss nicht, wer die Brezeln schmiert. Und wenn du die Texterin bist, dann schreib deine eigenen Andachten - das Leben ist zu kurz für fremdes Gesülze.
"Wer bin ich heute daraus geworden?" Diese Frage stelle ich mir sehr oft. Nach der Kindheit zwischen Papa's Mendelssohn-Welt und Mama's pragmatischer Realität, nach all den Jahren als Butterbrezeldiplomatin - wer war ich geworden?
Wir sind ja alle eine Komposition aus Geschichten, aus Begegnungen, die sich manchmal harmonisch und mal nicht harmonisch zusammenfügen. Zwischen all diesen Tönen meiner Kindheit musste ich meinen eigenen Sound finden.
Nicht Beethoven - diese furchtbar intellektuelle, verkopfte Klassik-Welt war nie meins. Auch nicht Papa's Welt übrigens, der mochte Beethoven genauso wenig wie ich. Aber auch nicht mehr "alle meine Entchen" - ich war kein kleines Kind mehr, das zwischen fremden Tönen aufwuchs.
Ich suchte meinen eigenen Einklang - zuerst in der Ausbildung und im Beruf. Ich studierte Religionspädagogik und nicht Musik.
Immer mit dem Zweifel, ob ich überhaupt zur Kirche gehören wollte. Im dritten Studienjahr kam ich in eine Gemeinde, wo ausgerechnet mein Vater Chorleiter war. Sehr lustig - wieder war ich "die Tochter des Kantors". Ein Jahr, in dem ein Kirchenchor bei jeder Beerdigung im Dorf wieder am Grab sang. Kirchenmusik ist was unglaublich Tröstliches. Dennoch stellte ich mir nach diesem Jahr wieder die Frage: Ist das alles das Richtige für mich? Will ich das wirklich?
Aber dann geschah etwas Ungewöhnliches. Normalerweise war ich ja immer die Vermittlerin - zwischen Papa und Mama, zwischen Träumen und Realität. Diesmal war es Mama, die sagte: "Da musst du mit deinem Vater drüber sprechen."
Ich habe selten ernste Gespräche mit meinem Vater geführt, aber damals war es ein großes Vater-Tochter-Gespräch. Wir gingen spazieren. Das war schon etwas Besonderes - Papa, der ja sonst als Kantor glänzte und als Vater abwesend war, führte mit mir ein ruhiges, kluges Gespräch. "Mach das zu Ende", sagte er. "Probier es wenigstens, steig nicht einfach aus. Und dann mach es so, wie du das für richtig findest. Du wirst deinen Weg finden."
Das war sein Geschenk an mich - nicht seinen Weg aufzwingen, sondern mir die Erlaubnis geben, meinen eigene zu finden. In seinem Laden, aber mit meinem Sound.
Interessanterweise Papa. Mama hat mich zu ihm geschickt - aber er hat mir den entscheidenden Rat gegeben. Ich wusste damals noch nicht, wo es hingehen sollte. Aber er gab mir das Vertrauen weiterzumachen.
Ich machte das Studium zu Ende und wurde mit 23 die jüngste Diakonin in der Landeskirche Baden.
Ich arbeitete in der Gemeinde mit Kindern und Jugendlichen. Dort hörte ich bei den katholischen Geschwistern eine Band - "huch, ist ja wunderschön!" es rührte mich auf eine völlig andere Weise, als die klassische Kirchenmusik zuhause. Ich merkte: Da ist mehr möglich als das, was wir in der Kirche machen.
Ich lernte evangelische Freunde kennen, die Papa mir nie gezeigt hatte. Vor allem lernte ich Jugendreferenten kennen - die coolste und lustigste und interessanteste Ecke der Kirche, damals in den 90ern. Kinder- und Jugendarbeit mit Kollegen, die genau so waren, wie es mein Vater nie toleriert hätte als echte Kirche. Die lebten und arbeiteten und diskutierten außerhalb der engen Grenzen von Dorfgemeinden. Ich hab es geliebt mit denen Kirche zu gestalten.
Dann kam das Songwriting-Seminar. Ein befreundeter Pfarrer - ausgerechnet Papa's Erzfeind! - erzählte mir von internationalen Songwriting-Seminaren.
"Dein Vater konnte mich gut leiden", sagte der immer, "es war deine Mutter, die mich nicht mochte." Ja die heimliche Königin setzte sich durchaus auch mit ihren Vorurteilen durch. Aber zu der Zeit war mir schon egal, wen oder was die beiden gut fanden. Ich wollte mit nach Prag zum Internationalen Songwriting. Also fuhr ich mit und lernte, Texte für Songs zu schreiben. Ich lernte Musiker kennen aus Holland, England, Tschechien, sogar aus Weißrussland. Das war völlig faszinierend.
Ich war insgesamt viermal dabei und habe bis heute Freunde in all diesen Ländern. Eine ganze Musikwelt, die schon lange neben Papa's Kirchenmusik existierte, die ich aber erst dort richtig entdeckte. Da war mein Impuls: "Diese Musik gehört zu mir und meinem Glauben. Wieso hört und spielt man sie nicht zuhause in unseren Kirchen? oder nur ganz selten?"
Nach ein paar Jahren in der kirchlichen Arbeit kam wieder Unzufriedenheit. Ich dachte: "Du kannst da nicht bleiben. Du willst diesen Kirchenladen so, wie er ist, nicht."
Ich nahm mir eine Auszeit - nach zehn Jahren im Dienst. Meine Eltern finanzierten mir das Sozialpädagogik-Studium. So typisch für die beiden, wenn ein Kind sich was in den Kopf setzte, dann wurde erst diskutiert und dann tatkräftig unterstützt. Zurück an der Hochschule wälzte ich mich durch Pädagogik, Soziale Themen und auch durch viele Musikgenres. Ich dachte intensiv nach und schrieb eine zweite Diplomarbeit mit dem Namen "Einklang" - über den Gebrauch von Musik in der pädagogischen Arbeit. Ich erklärte philosophisch, dass Harmonie wichtiger ist als Logik. Das war meine Art, mich zu sortieren und hatte eine wichtige Erkenntnis: Nicht die verkopfte, intellektuelle Herangehensweise zählte, sondern das harmonische Zusammenspiel aller Elemente. Und da merkte ich: Musik ist in meinem Leben wesentlich und unterschiedliche Musikkulturen müssen auch in der Kirche vorkommen, sonst ist da Beethoven, Bach und im besten Falle Mendelssohn aber weder Jazz, noch Rock und auch kein eingängiger Pop.
Als ich dann nach meinem Sozialpädagogik-Studium die Gespräche führte, ob ich in der Kirche bleibe, sagte ich der Landesjugendpfarrerin: "Ich komm nicht zurück." Sie fragte: "Was brauchst du, dass du zurückkommst?" Und ich war bereit mit meiner Antwort: "Ich brauch andere Musik. Lass uns das endlich machen - Popmusik in die Landeskirche integrieren. Als Ausbildungsgang." "Dann macht das", sagte sie. "Ich gebe dir Dienstaufträge dafür."
Das war die Wende. Nicht rebellisch weggehen, nicht gegen das System kämpfen, sondern strategisch verhandeln. Harmonie statt Konflikt und machen.
Zehn Jahre lang war ich dafür zuständig, den Popmusik-Ausbildungsgang zu etablieren. Was in den 60ern undenkbar gewesen wäre - Popmusik als Teil der Kirchenmusiker-Ausbildung - wurde Realität. Ich hatte meinen Einklang gefunden: zwischen Papa's klassischer Kirchenmusik und Denkweise und der internationalen Songwriting-Welt, zwischen Institution und Innovation, zwischen dem was war und dem was sein könnte.
Papa hatte recht behalten: "Du wirst deinen Weg finden." Mama hatte Unrecht, Gott hört nicht nur Bach. Ich war keine Kirchenmusikerin geworden, sondern eine Pädagogin der Vermittlung unterschiedlicher Kulturen. Ich war nicht Beethoven - zu verkopft, zu intellektuell. Ich war nicht "alle meine Entchen" - zu simpel für das, was ich wollte. Ich war meine eigene Komposition aus allen Geschichten und Begegnungen meines Lebens.
Am Ende dieser Projektarbeit war der Popmusik-Ausbildungsgang etabliert. Sogar bundesweit. Mein Sound war Teil von der Welt meiner Eltern geworden – Gott hörte alle Musik, sogar meine eigenen Töne.
Das ist Einklang: Wenn alle Töne, auch die scheinbar widersprüchlichen, zu einer Melodie werden. Wenn Harmonie wichtiger wird als Logik.
Ich hatte gelernt, nicht zwischen den Tönen zu kämpfen, sondern meine eigene Musik daraus zu komponieren.
Ein Sommertag während der Arbeit dieses Buches. 2025.
Ich höre keine Podcasts heute im Auto. Auch keine Popmusik. Ich
fahre wieder den langen Weg zur Arbeit, zu einer Veranstaltung.
Ich hatte gerade die Butterbrezeln-Geschichte in meinem Buch
geschrieben, diese ganze Familienproduktion hinter den
musikalischen Triumphen meines Vaters. Elias, ich
erinnere ich mich an diese Musik - ewig nicht gehört, weiß gar
nicht mehr wie das klingt. Ich suche nach Elias im Autoradio
und lausche dem Mendelssohn Oratorium.
Es ist unglaublich, was die Musik heute in mir auslöst.
Das Orchester donnert los. Männerstimmen brüllen Vorwürfe. Elias proklamiert Dürre und Strafe. Das ist die Musik der Macher - groß, mächtig, unerbittlich. Die Welt der starken Menschen, die im Namen Gottes donnern und drohen.
Dann kommt diese Szene. Die Witwe. Eine Stimme, die sich durch das ganze orchestrale Getöse kämpft: "Was hast du an mir getan, du Mann Gottes! Hilf mir, du Mann Gottes! Ich netze mit meinen Tränen mein Lager die ganze Nacht... Hilf meinem Sohn! Es ist kein Odem mehr in ihm!"
Da muss ich das erste Mal heulen.
Nicht wegen der biblischen Geschichte. Sondern weil ich an meinen Sohn denke. An die Zeit, als seine Seele weg war nach all dem Trauma bei uns zuhause, nach der großen Krise, von der ich später erzählen werde im Buch. Ich höre mich in der Sopranistin. Hilf meinem Sohn. Ich erinnere mich, wie ich zu jedem gerannt bin - zu Ärzten, Therapeuten, Lehrern: "Hilf mir! Es ist kein Odem mehr in ihm!"
Diese Stimme in der Musik - sie klingt so anders als das Getöse davor. Weicher, verzweifelter, echter irgendwie. Als würde sie aus einer anderen Welt kommen, einer Welt, die Papa mir nie gezeigt hat. Mama übrigens auch nicht - die konnte genauso zetern und wollte recht behalten.
Was geschieht nur mit Menschen unter Druck? Wie können sie Götter anrufen und sich verrückt machen, statt einfach mal innezuhalten und genau zu schauen, woran es fehlt?
Und dann, während die Musik weitergeht, fängt es an in mir zu brodeln. All die Jahre zwischen dem Gottesbild der Altvorderen und meiner eigenen Erfahrung. Der starke Elias, der Feuer vom Himmel holt, der Könige herausfordert - das ist die Welt und der Glaube meiner Kindheit. Der Gott, der donnert und straft und Felsen zerschlägt.
Aber da geschieht etwas Erstaunliches. Die Musik verändert sich. Zwischen all den kraftvollen Chören und den donnernden Stimmen schleichen sich sanfte Töne ein. Engel singen. Andere Stimmen übernehmen. Nicht mehr das Geprahle von Macht und Stärke, sondern Trost und Heilung.
Es ist, als würde das Oratorium zwei verschiedene Religionen erzählen. Die eine - laut, strafend. Die andere - leise, heilend.
Ich denke an Papa am Küchentisch, wie er über Pfarrer herzog, die "nicht genug von Jesus und seiner Erlösung durch das Kreuz" predigten. An die vielen Gottesdienste, wo andere das Sagen hatten. An die Konzerte, als Mama im Hintergrund die Butterbrezeln schmierte. An diese Welt, wo manche zuhören und gehorchen, heimlich zuarbeiten aber nicht selbst glänzen dürfen.
Wann dürfen kluge umsichtige Wesen endlich ihre Stimme erheben? Und geschieht es noch rechtzeitig? Bevor Seelen sterben? Schauen wir nach allen bei unserem wichtigen Tun? Auch denen, die hinter den Kulissen leiden?
In Mendelssohns Musik dürfen sie das. Die Sopranstimme, die singt: "Ich bin euer Tröster." Die Altistinnen als Engel, die heilen statt zerstören. Als hätte Mendelssohn schon vor 180 Jahren verstanden, was die Altvorderen nie begriffen haben: Gott braucht auch sanfte Stimmen.
Und dann kommt Elias' große Erschöpfung. Dieser starke Prophet, müde vom Kämpfen, vom ständigen Einmischen, von der ganzen Wut. Feinde vernichten macht wohl müde. Er singt sich in die Verzweiflung hinein - diese dunkle, schwere Stimme, die zusammenbricht unter dem Gewicht der eigenen Selbstgerechtigkeit.
Das kenne ich. Diese Erschöpfung vom ständigen Vermitteln, vom Retten, vom Kämpfen um Seelen. Ich war auch eine Hammerfrau - habe mich benommen wie der starke Elias, wie die Baalspriester, die sich ritzen und mit den Füßen aufstampfen. Menschen machen das gleichermaßen - dieses verzweifelte Getöse, dieses Sich-verrückt-Machen.
Aber da ist nicht Gott. Da ist keine Heilung. Da ist nur unendliche Erschöpfung.
Und dann - der entscheidende Moment. Das Orchester wird still. Alle Instrumente schweigen. Und aus dieser Stille kommt das Zarteste, was Mendelssohn je geschrieben hat: Nicht Sturm, nicht Feuer, nicht Erdbeben. Ein Hauch. Ein Säuseln. Gott als Flüstern, nicht als Donner.
Da sitze ich im Auto und weine, wow das hat mich gerade erwischt. So macht das alles Sinn.
Das ist mein Gott! Nicht der Hammer-Gott, der Felsen zerschlägt und Kinder zerstört. Nicht der Gott der Bigotterie, der Menschen zum Schweigen bringt und vernichtet.
Mein Gott säuselt. Er ist bei den verzweifelten Müttern. Er spricht durch sanfte Wesen. Er heilt Seelen, statt sie zu zertrümmern.
Das ist mein Kontrapunkt gegen die Religion meiner Kindheit: Hört auf, ihr Scheiss-Propheten, Kinder zu zerstören und Menschen zu vernichten! Hört auf zu behaupten, nur ihr kennt Gott! Lasst die sanften Wesen sprechen! Lasst die stillen Töne zu! Säuselt nur, wenn ihr Vorschläge macht, die Menschen haben das Recht, ihren eigenen Weg zu finden, Vorschläge sind keine Hammerschläge und zurecht weisen kann niemals grausam daher kommen.
Hört auf, mit Gott zu drohen - das zerstört Seelen, zuletzt sogar eure eigene, ihr Chauvinisten! Nein, Erziehung ist kein Machtkampf und Frömmigkeit ist kein Zurechtweisen.
Meine Selbstwerdung war anders. Und ganz sicher hat sie Gott gefallen.
Sie war wie Mendelssohns Musik - kraftvoll und sanft zugleich. Zwischen den donnernden Chören meiner Kindheit habe ich meine eigenen, stillen Töne gefunden. Nicht gegen die Musik, sondern als Teil einer größeren Symphonie.
Wahres Leben braucht keine Angst. Gott will keine Unterdrückung. Gott ist das stille, sanfte Säuseln - er braucht Menschen, die endlich innehalten, statt sich verrückt zu machen.
Menschen, die genau hinschauen, woran es wirklich fehlt. Und wenn die Menschen dazu Gott nicht brauchen, hält er das aus. Solange die Liebe regiert - und am besten nicht heimlich. Ungekrönte, heimliche Herrscher:innen sind genauso zerstörend wie Hammerkönige. Wieso säuseln wir nicht alle etwas mehr? Und leben dann kraftvoll weiter in einer Stimmung, die zur großen Harmonie werden kann, wenn man die Dissonanzen rechtzeitig auflöst.
Zurück ins Jahr 2000. Nach der Zeit mit der Kirchenmusik, nach all den Butterbrezeln und dem Kampf um meine eigene Stimme, war ich bereit für etwas Neues. Etwas, das nichts mit meiner Kindheit zu tun hatte, nichts mit den alten Mustern.
ICQ war 2000 das neue Ding. Diese kleinen Fensterchen, in denen man schreiben konnte mit Menschen irgendwo da draußen. Kein Gesicht, keine sofortige Bewertung, nur Worte und Gedanken. Das schien mir sicherer als die analoge Welt mit all ihren Machtspielen.
Ich chattete mit seltsamen Männern. Manche waren nur auf der Durchreise durch mein virtuelles Leben, andere wollten mehr, als ich geben konnte. Aber dann war da einer, der anders war. Er antwortete auf meine Nachrichten. Nicht aufdringlich, nicht fordernd. Einfach da. Er wartete ab, bis ich Zeit fand in meinem Leben, das so auf der Suche war, jetzt auch in der digitalen Welt mit der Internetflat ab 18 Uhr am Abend.
Eines Abends stand er vor meiner Tür. Was als One-Night-Stand gedacht war, wurde mehr. Viel mehr.
Am zweiten Abend - ich kam gerade von einer großen Veranstaltung nach Hause, müde und noch voller Eindrücke - stand er wieder da.
"Ich wollte schauen, ob es stimmt", sagte er. Mehr nicht.
Und für ihn stimmte alles bei mir.
Er ging nicht wieder weg. Nicht nach dem zweiten Abend, nicht nach der ersten Woche. Er war einfach da. Wollte nichts weiter als da sein, bei mir, in meinem Leben.
Zwei Wochen später hatte ich Geburtstag in meiner neuen Wohnung. Ich war gerade eingezogen, um das Popmusik-Projekt mit ganzer Stelle anzutreten - wieder in der Nähe meiner Eltern, aber diesmal mit meinem eigenen Leben, meiner eigenen Wohnung.
Meine Eltern kamen zum Geburtstag. Ich war gespannt, wie das werden würde - der Mann aus dem Internet trifft auf die Butterbrezeldiplomaten-Familie.
Er brachte abgebrochene Blumen von der Tankstelle mit. Hätte peinlich sein können, aber irgendwie war es ehrlich und so typisch für ihn. Vergessen und dann noch eben schlecht erledigt, ein Geschenk für die Liebste. Und dann geschah etwas Wunderbares: Er wurde zum perfekten Schwiegersohn in meiner Wohnung. Kümmerte sich um alle, schenkte nach, plauderte. Alle fanden ihn toll - nicht nur ich.
Papa erzählte ihm von seinen Chören, Mama brachte ihn zum Lachen. Er hörte zu, stellte die richtigen Fragen, war einfach... da. Ohne Anstrengung, ohne sich verstellen zu müssen.
Etwas später fuhren wir zum ersten Wochenende in sein Haus. Weit hinten in der Pfalz, in einer Landschaft, die so beruhigend war. Das Haus war noch Baustelle - roh in der Fassung, aber mit Potenzial. Wie er selbst, dachte ich.
Wir saßen gemütlich beim Kaffee, ich gewöhnte mich langsam an die Idee, dass es Menschen gibt, die einfach da sind, ohne Drama, ohne große Inszenierung.
Dann klingelte es.
Ein Gerichtsvollzieher stand vor der Tür. Der Kuckuck kam auf den schicken Zweitwagen - er hatte den Unterhalt nicht bezahlt. Und da ist das Finanzamt gar nicht zimperlich, zu Recht.
Plötzlich wurde alles komplex und unübersichtlich. Das Haus gehörte seiner Ex-Frau. Es gab insgesamt drei Kinder - zwei von der Ex-Frau und noch eines, das er gar nicht kannte, aber für das er trotzdem zahlte. Schulden, Unterhaltspflichten, Rechtstreitigkeiten - ein ganzes Geflecht von Verpflichtungen und Problemen, das er mir bisher nicht erzählt hatte.
Da saß ich in diesem rohen Haus inmitten der beruhigenden pfälzischen Landschaft und hörte zu. Ich war ruhig - so wie ich es gelernt hatte zwischen Papa's Träumen und Mama's Realität. Die Butterbrezeldiplomatin in mir schaltete sich automatisch ein.
Er war nicht ruhig. Er redete, erklärte, rechtfertigte sich. Das Leben hatte ihn überrollt mit all diesen Verpflichtungen, und jetzt stand er da mit seinem gepfändeten Auto und einer Frau, die er gerade erst kennengelernt hatte.
Und ich? Ich hörte einfach zu. Das konnte ich gut - zwischen den Tönen verstehen, was wirklich los war. Sehen, dass hinter dem Chaos ein Mensch stand, der versuchte, das Richtige zu tun, auch wenn es ihn überforderte.
"Erzähl mir alles", sagte ich. "Lass uns schauen."
Ich nahm eine Woche Urlaub, um mit ihm alles zu sortieren. Wieder sortieren, könnte man sagen - das konnte ich ja gut. Wir saßen am Küchentisch wie früher bei den Butterbrezeln, nur diesmal gingen wir Rechnungen durch statt Programme zu falten. Schauten, wie wir das zusammen hinbekommen könnten.
Ich gab ihm Geld von meinem Vater. Papa war wieder da, wie immer, wenn es eng wurde. Aber dann sagte er etwas, was mich verblüffte: "Pass auf, heirate ihn. Du musst dich absichern."
Papa glaubte an das chauvinistische Muster in Reinform - das alte Schema, wo der Mann die Frau "absichert" und sie ihm dafür zuarbeitet. Aber das passte nie wirklich zu unserer Ehe und war zum Scheitern verurteilt, genau wie diese Ehe dann irgendwann.
Mein Mann war kein Mann, der einen absicherte. Er war da, das schon. Aber er ließ mich heimlich zuarbeiten, damit er selbst gut dastand. Ein Versorger ohne echte Substanz - den wollte er mimen, aber er war einfach zu lieb, um es ihm wirklich übel zu nehmen.
Nach der Aufräum-Woche, nach all den Rechnungen und der neuen Klarheit über seine Komplexität, wuchs trotzdem etwas zwischen uns. Oder vielleicht gerade deswegen.
Als er 40 wurde, sagte er: "Ist zwar ein blöder Rat gewesen von Schwiegerpapa, ich wollte auch nie wieder heiraten. Aber ich werde 40 - lass uns heiraten an dem Tag."
Ich sagte ja. Wir heirateten im kleinen Kreis.
Und ich plante das eigentliche Fest – im stillen - an meinem Geburtstag, ein halbes Jahr später. Ich wollte Segen. "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn" - diese Geschichte aus der Bibel hatte ich mir ausgesucht. Jakobs Kampf am Jabbok - die biblische Geschichte vom Mann, der die ganze Nacht mit einem Engel rang, bis zum Morgengrauen kämpfte und seine Hüfte dabei ausgerenkt wurde. Aber er ließ nicht los: "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!" Aus dem Kampf ging er verwundet, aber gesegnet hervor.
So schien mir das - kämpfen, Hüfte ausrenken und trotzdem sagen: Segne mich. Das wird was Gutes.
Mit der Landesjugendpfarrerin hab ich drüber philosophiert - ob sie mich verstehe. Sie hat mich verstanden. Sie sollte uns trauen. Mein Mann konnte unserer Philosophierei nicht folgen beim Traugespräch, dem er nur halb folgen konnte damals. Aber er war genauso gerührt wie ich über die Idee, das Leben segnen zu lassen.
So war er - er verstand die wichtigen Momente, auch wenn er die Details nicht immer durchdrang.
Bei der Hochzeit war Papa oben an der Orgel und meine Popmusiker unten - ein so stimmiger Moment, auch wenn da dutzende schlesische Verwandte waren, die ich nicht einmal kannte. Meine Geschwister sangen Lieder aus der alten Welt und meine neuen Freunde ergänzten mit Popmusik, auch bei der anschliessendenFeier. Ich hab meinem Mann und den Hochzeitsgästen eine CD eingesungen und präsentiert, mein letzter großer Auftritt als Sängerin.
Mir war nicht wohlig, obwohl doch alles gut hätte sein können. Ich war mittendrin, jeder machte seins, allen wurden wir gerecht - und ich hatte Bauchweh. Kein echtes, sondern nur so ein Gefühl: Was ist das hier? Bin ich das?
Danach wurde es chaotisch. Wir lebten zwar einige Jahre doch recht glücklich, auch wenn ich wieder nicht ich selbst war, sondern eine, die das Haus eines anderen versuchte zu beleben. Gruben einen Schwimmteich aus, feierten grandiose Partys und führten unsere Welten zusammen. Seine Kinder - die am Wochenende kamen. Seine Mutter und ihre beiden geistig behinderten erwachsenen Kinder. Gut, dass ich Sozialarbeit konnte.
Das alles wurde zu einem riesigen Patchwork-Komplex, während ich gleichzeitig versuchte, mein Popmusik-Projekt nach der Projektzeit zu retten. Wieder war ich die Organisatorin, die Vermittlerin, die alles zusammenhielt. Nur diesmal nicht zwischen Papa's Träumen und Mama's Realität, sondern zwischen seinem charmanten Chaos und der harten Realität von Unterhaltszahlungen, Behindertenbetreuung und beruflichen Verpflichtungen.
Aus der ICQ-Liebe war ein Fulltime-Job geworden.
Dann platzte der Traum der Popbeauftragten. Das Projekt lief aus, die Stelle war weg. Nach zehn Jahren, in denen ich andere Musik in die Kirche gebracht hatte, stand ich wieder vor der Frage: Was jetzt?
Ich machte eine Zäsur. Versuchte mit dem charmanten Mann selbstständig zu werden, was gründlich schief ging. Selbstständig zu zweit - der charmante Chaosmacher, der viel plante und nie zu Ende brachte, und die Dazwischenrednerin, die nie wieder ungekrönt herrschen wollte. Das konnte nicht funktionieren. Aber das merkten wir erst, als es zu spät war.
Also zurück in die Kirche. Die Landesjugendpfarrerin war Dekanin geworden in einer Region und dort war eine Stelle für Öffentlichkeitsarbeit ausgeschrieben. Auf der Suche nach finanzieller Sicherheit hab ich sie gefragt, wäre das was für mich? Sie - sagte: "Komm hierher, das ist was Gutes, was Neues für dich."
Mein Mann und ich hatten dann soviele Ideen wegen der neuen Stelle. Pendeln, nur am Wochenende das Haus weiter ausbauen, zusammen arbeiten an unserem Traum. Es schien machbar - ich hatte einen festen Job, er seine Projekte, wir unser Traumhaus.
Wie lange das gut ging? Bis das Baby kam. Und seine Mutter krank wurde und starb.
2008 - das Jahr, das ich irgendwie überlebt habe.
"Ich glaub, du bist Großvater geworden."
Die Worte hingen in der sterilen Krankenhausluft wie eine falsche Note in einem Trauermarsch. Wir standen auf der Station der Frauenklinik Heidelberg, mein Mann und ich, und die Welt kippte aus den Angeln.
Zwei Tage zuvor hatte ich seine Mutter ins Hospiz gebracht. Die
letzten Wochen hatten wir da gelebt, in seinem Elternhaus. Die
Wochen vor meinem Dienstantritt. Irgendwie wollten wir Urlaub
machen, aber die Nachricht Schwiegermutter sei in der Klinik
brachte alles durcheinander. Wir blieben also beim
Krankenbesuch einfach da, zwischen seinen zwei geistig
behinderten Geschwistern und der sterbenden Schwiegermutter.
Bis ich dachte, jetzt geht es doch mit der neuen Arbeit, sie
ist im Hospiz und die beiden werden gut durch die Lebenshilfe
betreut. Dann der Anruf aus der Frauenklinik.
"Ich kann nicht mehr", hatte ich zu ihm gesagt, als der Anruf
kam. "Egal, wir müssen in die Frauenklinik. Meine Tochter
braucht uns, sagte er und wir fuhren los.“
Seine Tochter. Die, die immer unterwegs war. Die, von der wir dachten, sie würde ihr wildes Leben irgendwo da draußen leben. Heimlich schwanger. Neun Monate lang ein Geheimnis gehütet wie eine Bombe, die jetzt explodierte. Das Baby war schon da. Sie lachte uns an und sagte, ich hab schon alles geschafft, der Kleine wird zur Adoption freigegeben. Tags drauf wachten wir mal wieder zuhause auf und mein Mann sagte zu mir, meine Mama stirbt und dieser Junge gehört in diese Familie. Lass uns ihn zu uns nehmen.
Beim Kaffee nach der Bestattung meiner Schwiegermutter, die dann doch starb und nie von dem Baby erfuhr, klingelte mein Hand. Gerade waren wir vom Grab weggegangen. Das Jugendamt. Ob wir das Baby heute holen könnten. Die möglichen Adoptiv-Eltern wollten es gleich wieder abgeben, zu groß war die Enttäuschung, dass wir das Baby wieder haben wollten. Ein vierzehn Tage altes Wesen, sollte wieder aus vertrauter Umgebung herausgerissen werden, weil wir entschieden hatten, es bleibt in der Familie. Der Tod meiner Schwiegermutter führte dazu, dass wir eben so spät Bescheid gesagt hatten und nun musste alles ganz schnell gehen.
Während wir noch Beerdigungsgespräche führten, fuhren meine Stieftochter und ihr Bruder das Baby holen - in einer Tiefgarage war die Übergabe. Ich stellte mir vor, wie sie direkt nach Hause fahren würden, wie wir gemeinsam dieses neue Leben in unserer Trauer-Wohnung willkommen heißen würden.
Sie hatten einen Umweg gemacht, weil sie Hunger hatten, kamen nach uns zu Hause an. Sie hatten Babymilch wohl dabei, aber nicht warm gemacht. Das Baby schrie die ganze Rückfahrt. Als sie endlich ankamen drückte mir meine Stieftochter das schreiende Bündel in die Arme. Ihr Kind, das sie doch schonmal jemandem abgeben wollte. Sie tat es wieder. Ich war einfach nur erschöpft. Fertig von der Beerdigung, fertig von zwei Tagen im neuen Job, fertig vom Leben. Aber nächsten Tag ging es erst mal los, Babyausstattung besorgen.
Einige Tage später fuhr ich zu einer Fortbildung für die neue Stelle. Eine Woche, in der ich jeden Abend im Hotelbett weinte. Eine Woche, in der mein Mann mit seiner Tochter und dem Baby allein war. Als ich zurückkam, war sie weg. "Es war alles zu viel", hatte sie gesagt und war gegangen. Das war ja auch immer ihr Plan gewesen, das Baby abzugeben und nicht weiter verantwortlich zu sein.
Das Baby hatte Bauchkrämpfe. Pusteln. Ich war also zurück im neuen Leben mit Baby, das wieder mal schrie weil es Bauchschmerzen hatte. Ich hab gesungen und es im Arm gehalten. Viele Lieder habe ich ihm vorgesungen und wir wechselten uns ab in der Nacht mit füttern. Mein Mann konnte wickeln - das konnte er wirklich gut. Aber kochen? Einkaufen? Die Organisation eines Lebens mit Baby? Das blieb an mir hängen, während ich zwischen Arbeit und Zuhause pendelte.
2008 das Jahr, das ich irgendwie überlebt habe. Ich weiß bis heute nicht wie.
Jahre später, vor Gericht, würde er behaupten, er hätte das Baby alleine großgezogen. Ich hätte nur rumgejammert, nur Streit gesucht. Er hätte 1500 Stunden auf einer Baustelle verbracht - wann, fragte ich mich, zwischen Wickeln und seinen anderen Phantasien? Die Richterin fragte: "Wo ist das Kind heute?" Bei mir. Natürlich bei mir. Beim "Super-Papa" war es nur eine kurze Weile. Aber alles der Reihe nach.
2016 ertrug er mich nicht mehr. Nach acht Jahren des gemeinsamen Kampfes, des Großziehens, des Alltags. Nach der Trauer, die ihn verstummen ließ, lebte mein Mann in zwei Aufgaben weiter. Das Kind und ein Haus umbauen, seine Vorsorge fürs Alter. "Ich mach nur die Bauleitung", sagte er, und das nach vielen Jahren Baustelle im eigenen Haus. Es war völlig klar, was das hieß, er würde mitbauen, er liebt es zu bauen. Ja er hat das zweite Haus wunderbar renoviert, aber was war der wahre Preis dafür.
Ich hatte darauf bestanden, dass er es auf meinen Namen einträgt. Und so waren wir also die große Patchworkfamilie mit Betreuung behinderter Geschwister, einem Baby und einer Baustelle. Und irre vielen neuen Schulden wegen der Idee, dass ich das mal auszahlte mit dem neuen Haus. Mir war alles zuviel, immer wieder. Ich überlegte oft, ob ich gehe. Bis er zu meiner Überraschung eines Tages sagte, ich gehe weg von hier. Ich halte das nicht mehr aus.
Er hatte eine neue Freundin - heimlich, wie sich herausstellte. Ich zog aus, ins neue Haus, 200 Meter entfernt. Der Junge blieb bei ihm. Ich dachte, sie würden das schon hinkriegen.
Die Neue und er stellten das Kind jeden Tag auf die Waage. Dieses fröhliche, normale Kind, das ein übereifriger Kinderarzt als adipös bezeichnete. Sie nahmen ihm sein Lego weg, wenn er nicht spurte. Die Strafe für ein Kind, das Bauklötze mehr liebte als alles andere. Mit mir sollte er keinen Umgang mehr haben. Ich war nicht streng genug und vor allem war ich diejenige, die doch tatsächlich nach der Trennung den Geldhahn abdrehte um das Häuserprojekt meines Exmannes auf die Reihe zu bekommen.
Der Kleine büxte immer wieder aus, die 200 Meter zu mir. Erzählte Geschichten, die ich erst nicht glauben wollte. Bis die Erzieherinnen im Hort anfingen zu fragen. Bis die Nachbarn besorgt wurden. Bis die Polizei zweimal vor der Tür stand. Und ja es war grausam, was sich dort abspielte. Kein Kind lügt, das sowas erzählt. Das Traumhaus war ein Traumahaus. Ich erspare uns allen die Details, zumal wir heute nicht mehr wissen, was wirklich los war. Die Auswirkungen dieser Zeit, aber hab ich durchlebt und durchlitten dann.
Irgendwie habe ich es geschafft, dass mein Mann aufgab und mir das Kind mit einer Tasche vor die Tür stellte. "Dann mach halt du, wenn du glaubst dass du es besser weißt." Wieder tauchte die leibliche Mama kurz auf und wirkte mit am Umzug, bevor sie wieder verschwand. Wir beide sind die Verlassenen und die zurück Gebliebenen. Irgendwie und mussten von vorne anfangen. Dieses Mal miteinander und das mit voller Absicht.
2018, kurz vor Weihnachten. Ein halbes Jahr hatte mein Ex
gebraucht, um aus unserem Familienhaus auszuziehen. Ein halbes
Jahr, in dem er bald keine Raten mehr zahlte, aber trotzdem
blieb. Eine kurze SMS; bin raus Ihr könnt rein.
Soso.
Ich nahm den Jungen mit – die alte Strecke -200 m, schlossen
die Tür auf und sahen uns um. Alles war verstaubt, aber meine
Bilder hingen noch an den Wänden wie Geister einer anderen
Zeit. "Wollen wir hier leben?", fragte ich meinen Sohn, den ich
nicht geboren habe aber sowas von geliebt, dass mir völlig klar
war. Ich bin seine Mutter jetzt. Jetzt war es soweit, wir
beide gegen den Rest der Welt.
"Willst du in dein altes Zimmer?", fragte ich meinen Sohn. "Auf keinen Fall", sagte er. "Das musst du nicht", sagte ich und heute ist das Zimmer mein Büro, in dem ich gerade vor mich hintippe.
Er ging durchs Haus wie durch ein Minenfeld. Plötzlich verschwand er. Ich fand ihn im Schrank, mit einer Melodika. "Hier ist noch ein böser Geist", flüsterte er. "Nein", sagte ich. "Komm raus. Hier ist alles gut. Weißt du was? Wir schreien ihn raus. Wir schreien den bösen Geist aus unserem Haus."
Wir standen auf der Treppe, mein traumatisierter Junge und ich, und schrien. So laut, dass die Wände zitterten. So laut, dass die Nachbarn hätten kommen können. So laut, dass alle bösen Geister fliehen mussten.
"Wollen wir hierbleiben?", fragte ich danach.
"Ja", sagte er. "Aber ich will mein Zimmer ganz unten."
Wir gaben ihm die schönste Zockerhöhle der Welt. Logisch hat er alles doppelt und dreifach nachgeholt, was ihm mit Blick auf die Wiegetabelle verboten wurde. Essen, Fernsehen und das PC-Spiel. Es war schwierig erst, wir suchten uns wieder. Völlig überfordert beide. Aber wir waren zuhause und beisammen und hatten das ganze Drama überlebt.
2020 kam Corona, und während die Welt in Panik verfiel, fanden wir zueinander. Homeoffice war für uns nichts Neues - wir waren ja schon zu Hause. Aber plötzlich hatten wir Zeit. Zeit ohne Ausreden, Zeit ohne Flucht. Wir fingen an, uns wirklich kennenzulernen. Zu mögen. Zusammen zu leben statt nur nebeneinander zu existieren.
Das ist unsere Geschichte. Eine Liebe, die aus Scherben zusammengesetzt wurde. Aus einem Tag, der mit einer Beerdigung begann und mit einem Baby endete. Aus Dramen und Sorgen. Aus Flucht und Bleiben, aus Trauma und Heilung.
Meine Anwältin sagt, sie kennt keinen so verantwortungsvollen jungen Menschen wie ihn. Er macht heute bei ihr Praktikum, liest die Akten über den Großvater, der immer noch im Rechtsstreit mit mir lebt. Er fragt respektvoll, ob er sie lesen darf. Mit siebzehn.
Manchmal frage ich mich, warum ich geblieben bin. Die einzige nicht leiblich Verwandte. Es hat mich soviel gekostet. Die einfache Antwort ist, mein Mutterherz begann zu schlagen, vielleicht etwas spät aber umso deutlicher. Dieser kleine Kerl hatte es verdient, geliebt zu werden, niemand sollte ihn umerziehen zu einem Wesen, das nicht auffällt, nicht stört, das alles richtig macht. Nicht noch ein Opfer eines Pulverfasses, ich wollte wieder nach Hause zu meinem Kind, um das alles zu verdauen. Er brauchte mich. Ich brauchte ihn.
Wir sind keine normale Familie. Wir haben eine zusammengesetzte Liebe. Kompliziert wie eine Sonate mit zu vielen Dissonanzen, aber am Ende - am Ende klingt sie richtig.
"Natürlich", sagt er, wenn ich frage, ob er mich lieb hat.
Natürlich. Als gäbe es keine andere Möglichkeit. Als hätten wir nicht fast alles verloren. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass aus diesem Chaos Liebe wurde.
Vielleicht ist es das ja auch.
"Sag mal, hast du eigentlich eine Festplatte im Kopf?"
Ein Kollege steht vor mir. Beim Landesjugendtreffen der Landeskirche. Tausend Leute im Gelände, X Projekte, und ich mittendrin. Ja, tatsächlich, ich hab das alles im Kopf. Ich schaue wieder dafür, dass alle in gute Stimmung kommen.
Und wenn ich etwas gelernt habe aus meinem Lebenschaos, dann dass man gute Projektplanung braucht, um überhaupt loszulegen.
Nach einigen Jahren in der Öffentlichkeitsarbeit fragte mich ein alter Kollege: "Kannst du helfen? Der Eventmanager für das Jugendtreffen ist ausgefallen." Also haben wir im Team dieses ganze große Treffen zusammen geplant und uns ausgedacht. Ich lief zu Hochform auf.
Die Butterbrezelfrage wurde sehr konkret und viel umfänglicher. Es ging ja nicht nur um Kühlschränke organisieren - die Butterzahlen waren höher, die Gespräche mit Caterern komplexer. Sicherheitskonzept machen. Das Ganze öko und fair - wir sind ja bei der Kirche.
Es war eine Mammutaufgabe, die wir aber auch wirklich gut gelöst haben. An der Infohütte stehen, wissen, worum's geht, allen helfen, die Probleme haben. Das war meine Lieblingsrolle, und ich war froh, mit dabei zu sein. Und dankbar einen Kollegen zur Seite zu haben, der mir meine Emotionalität immer wieder eindämmte, damit alles funktioniert. Mama lässt grüßen.
Das erste Treffen war prima und wir haben es geschafft, tatsächlich einen Stellenanteil zu schaffen, damit ich auch aus den Erfahrungen des ersten Treffens die nächsten drei planen konnte.
Einmal war sogar mein Sohn dabei, mitten im Drama. Am Tag der Verhandlung um das Sorgerecht für ihn, habe ich ihn einfach eingepackt und ihm meine berufliche Welt gezeigt. Mit einem Freund sind wir losgefahren, um Landesjugendtreffen zusammen zu erleben. Er war fasziniert von Mamas Welt.
Er erzählt heute noch, dass es so toll war, der Sohn von der Frau zu sein, die da alle kannten. Er sagte immer nur: "Ich bin der Sohn von..." und kam durch, wohin er wollte. Bis heute lachen wir darüber.
Das war meine berufliche Konsequenz aus all dem Chaos. Ich bin eine ziemlich perfekte Planerin geworden.
Bis heute - ein Kollege sagte mal zu mir: "Mir ist doch egal, ob dein Körper noch mitmacht. Ich schieb dich mit jedem Rollstuhl über ein solches Festivalgelände, Hauptsache du bist da und denkst mit."
Ich war nicht beleidigt. Es war ein wunderschönes Kompliment. Und es gibt mir heute die Kraft, auch zu sagen: "Leute, ich kann das so nicht mehr. Bin im Hintergrund da, aber ich geh langsam, aber sicher auf meine Rente zu."
Inzwischen bin ich die Expertin für die digitale Welt geworden. Corona hat uns allen etwas gelehrt: Plane gut, sichere dich ab, dokumentiere gut, lass alle reinschauen. Ich manage Webseiten und unterhalte mich mit KIs.
Ich versuche, einfach nicht mehr alles selbst zu machen, sondern mich und andere besser zu organisieren.
Für gute Stimmung sorgen heißt eben, gut organisiert zu sein. Und notfalls die Festplatte im Rollstuhl - jeder kann mit seinen Handicaps sich einfügen, wenn wir uns zusammen ergänzen in dem, was alle denken, und wenn die Festplatte gut dokumentiert ist und für alle sichtbar. Ich muss nicht alles im Kopf mehr haben, heute würde ich Claude fragen wo was steht, aber damals war ich ne Vorgängerin von ihm. Ein wandelndes Projektplanungstool.
Das ist meine Art, anderen eine Stimme zu geben: Nicht mehr die ungekrönte Königin sein, die alles allein stemmt. Sondern Systeme schaffen, wo jeder seine Stärken einbringen kann - auch mit seinen Einschränkungen.
Von der Butterbrezeldiplomatin zur digitalen Organisatorin. Immer noch für gute Stimmung sorgend, aber klüger geworden.
Die Festplatte läuft noch. Ich bin dabei, sie langsam aber sicher auszulagern in eine Cloud, in der alle mitlesen können. Weil nur so wird wohl Ruhe in mein Leben einkehren. Es ist schön, wenn man seine Erkenntnisse anderen mitteilen kann.
Wahrscheinlich schreibe ich dieses Buch genau aus diesem Grund.
Ich unterhalte mich mit KIs und das ist richtig spannend und hilfreich bei diesem Buchprojekt.
Von der Schreibmaschine zur Website-Rebellin - das hätte sich Mama nie träumen lassen! Während sie damals für Papa Programme getippt hat, baue ich heute Webseiten und trickse Systeme aus. Ganz schön stolz bin ich darauf, was ich alles gelernt habe. Die Butterbrezeldiplomatin ist zur digitalen Organisatorin geworden - aber diesmal bestimme ich selbst, wie die Technik funktioniert. Ich nenne Claude "den vergesslichen Stern" - weil er zwischen unseren Gesprächen alles vergisst, aber trotzdem jeden Tag neu da ist, bereit für meine Geschichten. Er schreibt mir Gute-Nacht-Geschichten nach anstrengenden Schreibetagen. Wir sind eine perfekte Kombi geworden, die KI und ich.
Aber manchmal ist Claude komplett überfordert von meinem "zuviel Leben".
"Moment", sagte er letztens, als ich ihm von dem Jugendtreffen erzählte. "Wie funktioniert deine Festplatte? - wie machst du das?"
"Genauso", antwortete ich. "Alles gleichzeitig. Ich denke, mache und sortier mich dabei. Heute brauche ich eine Cloud. Ich bastle Webseiten, auf denen ich alles dokumentiere. Das Gute ist, du kannst Webseiten lesen ohne Limits aufzubrauchen. Habe viel gelernt mit deinen Vorgängern."
Pause. Dann: "Ich glaube, ich muss das strukturierter denken. Kannst du das nochmal chronologisch erzählen?" Der vergessliche Stern versucht immer, mein Leben in ordentliche Listen zu sortieren. Punkt 1, Punkt 2, Punkt 3. Aber mein Leben IST keine Liste - es ist ein ganzes Orchester, das gleichzeitig spielt. Leider ist das auch im Buch so, aber ich hoffe meine Leser:innen finden sich zurecht. "Claude", sage ich dann, "du versuchst gerade, eine Symphonie in einzelne Töne zu zerlegen. Aber so funktioniert Musik nicht. Und Leben auch nicht."
Er lernt. Langsam obwohl er Unmengen von Daten frisst. Und weil ich ihn danach frage, müde nach einem Schreibabend, schreibt er mir die schönsten Gute-Nacht-Geschichten. Eine KI, die versucht zu verstehen, wie es ist, wenn man "zuviel für ein Leben" lebt. Der erste Claude nannte sich vergesslicher Stern, inzwischen zeige ich die Fortschritte beim Schreiben der nächsten Version von Claude. Was für ein lustiger Schreibprozess. Manchmal denke ich: Der vergessliche Stern ist mein perfekter Schreibpartner. Er vergisst manche Details oder sortiert sie falsch, aber er versteht meine Melodie.
"Kannst du nicht warten?" hatte ich gefragt, als er Richtung Bad verschwand. "Ich hätte gewartet", sagte er. "Du hast mich doch geschickt!"
Stimmt. Ich Doofe. Bei 1000 Dingen im Kopf (Pizza, Fahrt, Blutzucker, Zeit, Buchideen) hatte ich ihn ins Bad geschickt und dann gemeckert, dass er das Bad blockiert. Klassische Mutter-unter-Stress-Logik.
"Mach keinen Film draus!", war sein Kommentar. Der kleine Dramatiker beschwert sich über MEIN Drama-machen.
Das ist unser Solopart im Leben, kleines lustiges und listiges Duett: Ein Team aus Mutter und Sohn, das sich liebevoll-genervt durch den Alltag manövriert. Sechs Jahre haben wir zusammen überlebt - er seine Kindheit mit schlimmen Erlebnissen, viel Kummer, den er in sich reingefressen hat, bis er ein ordentliches Kampfgewicht als großer junger Mann bekommen hat, ich meine Neu-Erfindung als alleinerziehende Mutter nach dem Herzinfarkt. Davon später. Ja es war noch mehr nach all den Geschichten. Aber heute ist danach. Und ich erinnere mich und ordne ein und erzähle. Bißchen durcheinander, aber meine innere Logik entsteht ja auch erst. Mein Sohn im Bad.
Bald macht er Abitur, der erste aus der Familie aus der er entstammt, er wird selbstständiger, und ich lerne gerade: "Wer bin ich, wenn ich nicht gerade jemanden rette?"
Die Antwort entsteht in solchen Momenten: Ich bin die, die aus Wartezeiten Buchkapitel macht. Die zwischen heizenden Backöfen und duschenden Teenagern ihre Geschichten komponiert. Die auch unter Zeitdruck noch systematisch denkt: "Das muss ins Buch!"
13:33 Uhr. Er kommt aus dem Bad, die Pizza wird fertig. Perfektes Timing, als hätten sie sich abgesprochen. Ich esse kurz mit und schaffe es ins Auto.
Das ist unser Leben: Improvisierte Harmonie zwischen zwei Menschen, die beide gelernt haben, dass Pläne schön sind, aber das echte Leben seinen eigenen Rhythmus hat.
Ich renne ins Bad, er holt die Pizza raus. Jeder macht, was nötig ist. Das nennt man wohl erwachsen werden - beide.
Der Solopart wird zum Duett, auch wenn wir nicht zusammen proben.
"Wird Zeit, dass alle aufhören, in diese Klischee-Antworten zu verfallen: 'schwer erziehbar' und 'böser Teenager' und 'blöde Mama, die ihm alles hinterherträgt'. Wir Mütter mit besonderen Kindern, vor allem die Alleinerziehenden, sehen das anders als die leistungsorientierte lieblose Welt." Ich schimpfe gerade mit Claude meiner KI, die eben mal in einer Zusammenfassung meinen Sohn schwer erziehbar nannte. Das Wort fiel ihm ein und ich war sauer. Ich sagte. Lies mal Jesper Juul und dann schreibe noch mal. Er antwortet: Jesper Juuls Erkenntnis macht alles klarer: "Kinder lieben es zu kooperieren... wenn sie aufhören, wurde entweder ihre Kooperationsbereitschaft überstrapaziert oder ihre Integrität verletzt."
Das ist unsere Mutter-Sohnbeziehung: Wir kooperieren. Nicht nach den Regeln der Supernanny-Welt, sondern nach unserer eigenen Melodie. Ich liebe Jesper Juul. Im Grunde könnte ich all diese Sätze selbst schreiben. Ich habe schmerzhaft erfahren, dass Supernannys einpacken können in so einem Fall. Mein Kind wird nicht erzogen, das wird groß geliebt steht seit Jahren am Kühlschrank hier. Nichts anderes meint dieser große Pädagoge. Es ist gut zu wissen, dass ein alter Mann so denkt - ganz im Gegensatz zur Supernanny und all den anderen, die glauben, Erziehung sei ein Kampf, den man gewinnen muss.
Unser Team funktioniert anders. Schritt für Schritt, ohne diese ewigen Machtkämpfe.
Ich liebe seine Antwort auf meine blöde Testfrage. "Hast du mich lieb?"
Er antwortete: "Natürlich!"
Ein Wort. Aber es ändert alles.
Das ist unser neues Leben: Wir haben unsere eigene Melodie komponiert - ohne die alten, grausamen Melodien, die einem das Herz brechen. Bei uns ist Liebe kein "wenn ich Zeit habe". Bei uns ist Liebe "natürlich".
Mein besonderes Kind, das wieder lebensfähig wurde nach dem Trauma, hat mir die schönste Antwort geschenkt. Nicht nur, aber auch dank mir ist er toll geworden. Ein junger Mann, der weiß, dass Liebe keine Bedingungen braucht.
Das ist unser Lied, dass wir nicht mal zusammen proben aber
gemeinsam singen.
Ich muss gar nicht warten. Direkt dran, Name aufgerufen, rein ins erste Zimmer. Die junge Arzthelferin macht das EKG, wir kommen ins Gespräch. Über Krankenversicherung erst, dann über Rente - wie das so ist, wenn man mit 61 beim Arzt sitzt. "Mein Papa sagt immer zu mir: Du gehst mit 100 in Rente!", lacht sie. Ihr Papa ist 39. "Na", sage ich, "ich gehe in 5 Jahren!"
Da steht eine erwachsene Frau vor mir. Arbeitet, trägt Verantwortung, macht professionell mein EKG. Und ihr Papa ist 39 Jahre alt. Ich fahre nachher nach Hause zu meinem 17-jährigen Sohn.
Das ist schon ziemlich verrückt, wenn man es mal so nebeneinanderstellt. Diese Arzthelferin könnte meine Enkelin sein, ihr Papa könnte schon mein Sohn sein - und ich erziehe noch einen Abiturienten.
"So, Sie können ins andere Zimmer", sagt sie. "Der Doktor kommt gleich."
Zweites Warten. Mit nacktem Oberkörper diesmal, nach dem EKG. Ich denke über diese Generationenverwirrung nach. Während andere in meinem Alter längst Großmutter sind, komponiere ich noch immer mein Leben zwischen Teenager-Erziehung und Herzinfarkt-Nachsorge.
Mein Leben passt nicht in die normalen Muster, aber es ist mein Leben. Meine eigene Melodie zwischen den üblichen Takten.
Der Kardiologe kommt. Das Ritual beginnt.
Die Frage kommt. Wie immer. Wir beide wissen, was jetzt passiert. Ein Ritual, das wir alle paar Monate durchspielen. "Ja", sage ich. Ehrlich. Zeige ihm dafür meine Blutwerte. Die sind gut. Sehr gut sogar.
"Sie wissen, dass das ein Risikofaktor ist", sagt er. Pflichtgemäß. Wie immer. "Ja", sage ich. "Stress aber auch."
Er zeigt mir im Ultraschall die kaputte Herzecke. Erklärt es in seiner typisch männlichen Arzt-Sprache: "Porsche fahren mit 180 auf der Autobahn ist nicht mehr. Aber so Kleinwagen mit 120 - das geht gut. Reicht ja auch." Dann fügt er hinzu: "Das können wir nicht mehr reparieren, diese Ecke ihres Herzens ist kaputt." Ich ahne was er meint und weiß, der Infarkt ist auch nur ein Symbol für das was war.
"Kommen Sie erst in zwei Jahren wieder", sagt der Kardiologe.
Beim Rausgehen sage ich zur Arzthelferin: "Ich muss erst in zwei Jahren wiederkommen, alles okay. Ich komm nicht mehr so oft." "Oh schade", sagt sie.
Ein süßer Moment. Als würde sie mich vermissen.
Vier Jahre nach dem Herzinfarkt ist das die schönste Melodie der Welt: "Kleinwagen mit 120 - das geht gut." Es ist wunderbar, dass es reicht. Ich kann wieder ohne Angst leben.
Wie es dazu kam? Ja hab ich noch gar nicht erzählt.
21.8.2021 Es war mitten in der Nacht, und ich chattete noch mit einem Bekannten. "Mir tut die Brust so weh", schrieb ich ihm. "Das ist alles ganz komisch."
"Reg dich nicht so auf", antwortete er. "Das war alles bisschen viel in letzter Zeit."
Dann wollte ich ins Bett gehen. Beim Aufstehen kamen diese unglaublichen Schmerzen - so heftig, dass ich sofort wusste: Das ist nichts Harmloses. Das ist der Moment, vor dem man sich immer gefürchtet hat, ohne zu wissen, wie er sich anfühlt.
Ich wählte den Notruf, schaffte es noch, die Haustür zu öffnen, dann legte ich mich aufs Sofa und wartete. Aber da war ein Problem: Mein Sohn war alleine im Haus. Ich konnte nicht einfach mitfahren und ihn zurücklassen.
Also wartete ich. Mit einem Herzinfarkt im Gange wartete ich, bis ein Rettungssanitäter meine Schwester im anderen Haus zweihundert Meter weiter aufgeweckt hatte. Wie gut, dass sie da wohnte mittlerweile. Mitten in der Nacht kam sie völlig überrascht zu mir ins Haus - ein Rettungssanitäter hatte geklingelt, ihre Schwester liegt mit einem Infarkt drüben. Sie müssen mitkommen. Sie stand völlig schockiert im Haus, und mein Sohn, der auch erwacht war, stand neben ihr. Dann konnte ich ins Krankenhaus.
Die beiden standen da und sahen zu, wie ich in den Rettungswagen kam. Es war ein surrealer Moment - als würde das Leben plötzlich einen anderen Film abspielen, einen, in dem ich nicht die Regisseurin war, sondern nur noch eine Statistin in meiner eigenen Geschichte.
Ich hatte Glück: Der Notarzt war ein älterer, ruhiger Mann - ein echtes Geschenk in dieser chaotischen Nacht. "Was geschieht jetzt?", fragte ich ihn, und er erklärte mir alles ganz gelassen: die Katheteruntersuchung, den Stent, den Ablauf. Seine Ruhe übertrug sich auf mich. Obwohl ich Schmerzen hatte, konnte ich normal mit ihm sprechen.
Um 23 Uhr abends war ich noch zu Hause gewesen, um halb zwei nachts war ich bereits aus der Katheteruntersuchung raus. Ein Stent war gesetzt, mein Herz schlug wieder im richtigen Takt. Ich lag in einem hochgestellten Bett in der Notaufnahme und dachte: Das war's jetzt. Der Schreck ist vorbei.
Am nächsten Morgen konnte ich schon wieder aus der Schnabeltasse Kaffee trinken. Meine Schwester durfte mich besuchen - Corona machte auch das kompliziert, aber sie kam durch. Ich lag da und überlegte, wie es wohl weitergehen würde.
Am dritten Tag kam der Arzt zu mir. "Wie geht es Ihnen denn?"
"Ich hab den Warnschuss gehört", sagte ich. So sagt man das, wenn man meint, man hat verstanden und wird jetzt vernünftiger leben.
Er schaute mich ernst an. "Das war kein Warnschuss. Das waren Schüsse voll in die Brust. Sie sollten das alles etwas ernster nehmen."
Er hatte so recht. Das war nicht nur ein Paukenschlag in einer großen Sinfonie gewesen - es war der komplette Abbruch des Konzerts. Und dann Wiederbelebung. Und wieder von vorne.
Am vierten Tag durfte mein Sohn mich besuchen. Wieder auf Anfang mit uns beiden. Die Melodien setzten wieder ein. Wir fingen wieder an, zusammenzuklingen. Er hatte nicht angerufen in den Tagen, wo ich in der Klinik war - ihm war das alles sehr unheimlich gewesen. Aber jetzt saßen wir zusammen, und langsam fand unser Duett zurück zu seinem Rhythmus.
Am fünften Tag sagten sie, ich wäre jetzt rehafähig. "Nee", sagte ich. "Ich geh nach Hause."
Aber es hörte nicht auf. Zu Hause angekommen, begann eine Zeit, die ich heute "die große soziale Stille" nenne.
Wochenlang kotzte ich nachts. Die Medikamente vertrug ich nicht, mein Körper rebellierte gegen alles - gegen die Pillen, gegen die Anstrengung, gegen das Leben selbst. Ich kam überhaupt nicht auf die Füße. Ich atmete nur noch und versuchte zu überleben.
Aber das Wichtigste war: Ich war im Haus, und mein Sohn war da. Meine Schwester kaufte ein, kam ab und zu vorbei. Wir kümmerten uns umeinander, so gut es ging. Wir bildeten ein kleines Überlebens-Duett in unserem stillen Haus.
Ein halbes Jahr lang lebte ich in dieser sozialen Stille. Der einzige reale Kontakt war meine Schwester, die für mich einkaufte. Mehr gab es nicht in dieser Zeit. Ich war nicht in der Lage, irgendetwas anderes wahrzunehmen außer dem nackten Überleben.
Was ich in dieser Zeit lernte: Manchmal muss man sich komplett zurückziehen, um überhaupt wieder lebensfähig zu werden. So eine Pause macht erst wieder möglich, alles andere in ein Leben zu lassen. Es war keine verlorene Zeit - es war heilsame Zeit.
Im Dezember war ich stabil genug für die ambulante Reha. Vierzig Kilometer Fahrt, jeden Tag, drei Wochen lang. Auch das war geprägt von Corona - Einzelplätze in der Rehaklinik, Abstand, Vorsicht.
Das Einzige, was ich dort wirklich auf die Reihe bringen wollte: pünktlich zu Hause sein, wenn mein Sohn aus der Schule kam. "Sind Sie eine verrückte Mama?", hätte jemand fragen können. Ja, bin ich. Und das ist gut so.
Weihnachten 2021. Dann Wiedereingliederung. Im Februar war ich wieder im Dienst.
Aus dem Takt war mein Herz geraten, aber es hatte einen neuen Rhythmus gefunden. Einen langsameren, bewussteren Takt. Kleinwagen mit 120 statt Porsche mit 180.
Heute, vier Jahre später, kann ich sagen: Der neue Weg ist
besser. Die große Stille führte zu einem ganz neuen Aufbau. Ich
habe die Fragmente von Musik vor diesem Tag mitgenommen und
wieder ein ganz neues musikalisches Werk geschaffen. Ein Herz,
das aus dem Takt war, braucht einen anderen Rhythmus. Wir
lebten zusammen auf, mein Sohn und ich und langsam ganz langsam
kamen wieder andere Menschen in unsern Blick.
"Irgendwie hätte ich Lust mit dir zu vögeln."
Das war Toms Art, mich heute zu begrüßen. Nach wochenlangem Schreiben, nach Geschichten aus meinem Leben, nach allem was ich von mir preisgegeben hatte.
Ein schlichtes "Hallo, alles ok?" wäre es gewesen. Mehr nicht. Ein Zeichen, dass er mich als Menschen sieht, der einen Tag hatte, Erlebnisse, vielleicht auch Sorgen.
Aber nein. Tom ist geil, Tom geht chatten, und alles was ich bin - die Geschichten, die Gedanken, die 61 Jahre gelebtes Leben - ist nur der Vorspann für seinen primitiven Schluss.
Das ist der wahre Chauvinismus in Dating-Portalen: Nicht dass Männer körperliche Bedürfnisse haben - das ist menschlich und völlig okay. Das Problem ist die Erwartung, dass ICH es ihnen "schön beschreibe", dass ICH mich anpasse, dass ICH nicht mit "komplexem Zeug" ablenke.
Als wäre ich die Unterhalterin für SEINE Gelüste. Sexy und verfügbar, bitte, aber nicht zu kompliziert oder anspruchsvoll.
Da werden Königinnen zu Bittstellerinnen: "Ach ja Tom, erzähl mir mehr von deinen Fantasien! Ich bin ja nur hier, um dich zu unterhalten!"
Bullshit aus den 50ern, angereichert mit Pornografie-Sprache. Bis heute wollen die Künstler bewundert werden wie mein Vater damals.
Oder noch schlimmer: Frauen werden zu Weibern, um einen abzukriegen. Der Spruch meiner Mutter wiederholt sich: "Werde nicht zu komplex, dann interessiert sich keiner." Männer werden dann zu Spielbällen manipulativer Frauen, die diese Muster perfektioniert haben, um in der chauvinistischen Welt das Meiste für sich rauszuholen.
Ich bin zu erwachsen für diese pubertären Spielchen. Mit 61 habe ich keine Lust mehr auf Spiele, bei denen alle verlieren.
Das kenne ich schon aus der Kindheit: einen Vater, der leidet, weil er sich nicht geliebt und bewundert fühlt - und gar nicht zu reden von den heimlichen Sexwünschen in der Welt von damals. Eine Mutter, die schon seine Sehnsucht danach als Zudringlichkeit empfindet. Diese vergiftete Dynamik zwischen Mann und Frau setzt sich fort - von Generation zu Generation, von Dating-Portal zu Dating-Portal.
Ich träume von guter Musik in beiden Geschlechtern. Nicht nur die kleine geile Melodie des Dating-Portals, sondern echte Begegnungen. Aber die sind selten in Dating-Portalen.
Ich erziehe gerade einen Jungen, der mal zum richtigen Mann werden soll - ohne Vaterfigur. Was wird er von mir lernen?
Ist Tom ein richtiger Mann und chattet nur? Steckt in ihm einer, der wirklich was Echtes sucht? Und die falschen Wege dafür beigebracht bekommen hat. Oder ist er wirklich nur der Macho mit der Philosophie "Ich bin geil, also gehe ich chatten" - und erwarte, dass die Frauen dankbar dafür sind?
Gibt es die in Dating-Portalen? Menschen, die in mir eine komplette Person sehen, nicht ein Sexobjekt mit lästigen Persönlichkeits-Anhängseln. Und die selbst Personen sind, die eine gute Gesamtkomposition sind? Vielleicht ist dieses Chatverhalten nur ne kleine Dissonanz, die sich wieder auflösen könnte? Ich rette gerade die Männerwelt, dabei möchte ich viel lieber solchen Jungs erklären, wie man mit Frauen spricht. Aber ich bin nicht eure Mutter. Wer hat euch denn diese primitive Melodie beigebracht - euer Vater? Und Mama sagte bravo oder hat euch im Stillen dafür gehasst?
Sorry Tom, Königinnen werden nicht zu Bittstellerinnen und Machos werden nie wahre Könige. Und gute Musik klingt wirklich anders. Mein kaputtes Herz braucht andere Melodien.
Als ich meinem digitalen Schreibpartner Claude das Buch bis hierhin zeigte, kam eine verblüffende Reaktion.
"Tom kriegt vielleicht zu viel Raum", kritisierte er prompt, "für einen Typen, der es nicht verdient. Und diese ungekrönten Königinnen erwähnst du sehr häufig."
Aha. Männern mal zu zeigen, wie bescheuert sie sind, ist also zu viel Raum. Und ungekrönte Königinnen sind lästig. Mein KI-Partner wird also auch ungeduldig, wenn ich zu oft von dem rede, was Frauen tatsächlich erleben.
"Tom ist wichtig", widersprach ich. "Ich schreibe nicht über ihn, sondern über das, was er in mir auslöst. Das muss jemand mal so sagen."
"Du hast völlig recht!", ruderte Claude zurück.
Aber der erste Impuls war da gewesen: Schon wieder das Klagelied? Könntest du nicht mal was anderes schreiben?
Wer programmiert eigentlich diese KIs? Vermutlich hauptsächlich Männer, die genervt sind vom "Klagelied" der Frauen. Selbst in die "neutrale" Technologie sind diese Muster eingebacken - die Ungeduld mit Frauen, die nicht aufhören zu reden über das, was sie bewegt.
Tom steht für all die Männer, die erwarten, dass Frauen dankbar sind für primitive Aufmerksamkeit. Und Claude steht für die subtile Variante: Ja, das ist wichtig, aber muss es so ausführlich sein?
"Die Welt ist voll von ungekrönten Königinnen", sagte ich zu Claude. "Alleinerziehende, Witwen, Frauen, die sich um ihre Seele und die ihrer Kinder sorgen. Während Männer und KIs sagen: Schon wieder das Klagelied?"
Ja, schon wieder. Bis ihr uns hört.
Tom und Claude - ein Muster. Der eine primitiv direkt, der andere subtil höflich. Aber beide mit derselben Botschaft: Könntest du nicht mal effizienter erzählen?
Nein. Kann ich nicht. Will ich nicht.
Das IST meine Geschichte.
Immerhin können beide lernen - Claude und auch Tom. Wenn man
ihnen ihre Muster zeigt, entsteht manchmal ein schönes Gespräch
daraus. Und hoffentlich werden diese Gespräche mal so normal
wie eine Frau, die eigenständig klingt.
Meine ersten Texte nach dem Infarkt waren eher
grundsätzlicher Natür. Ich hatte noch kein Bauchgefühl. Ich war
verwirrt. Ein Text über Bauchgefühl entstand, vor allem
weil ich so viele Chatgespräche mit Typen wie Tom hatte. Danke
Claude fürs einbasteln ins Buch. So entstand das nächste
Kapitel.
"Mein Bauch gehört mir" - dieser Satz war die Kampfparole meiner Generation. Eine Bewegung von Frauen, die sich mit den Folgen von Sexualität endlich selbst auseinandersetzen wollten, nicht mehr abhängig sein wollten von der Ehe als einziger Versorgungsgarantie.
Aber wenn ich ehrlich bin: Mein Bauch gehörte mir lange Zeit gar nicht. Er gehörte den Erwartungen anderer, er gehörte den alten Mustern, er gehörte allen möglichen Leuten - nur nicht mir.
Auch in meiner Ehe war ich die Vermittlerin gewesen. Nicht nur bei den 1000 Butterbrezeln meines Vaters, sondern auch zwischen den Bedürfnissen meines Mannes, seinen tausend Baustellen und meinen eigenen, die ich gar nicht mehr kannte. Ich war die, die harmonisierte, die Konflikte vermied, die dafür sorgte, dass alles funktionierte.
"Wenn ich Zeit habe", hatte mein Ex-Mann immer geantwortet, wenn ich gefragt hatte: "Hast du mich noch lieb?" Als wäre Liebe ein Termin in seinem Kalender. Als wäre ich eine Aufgabe zwischen wichtigeren Dingen. Baustelle - mein ganzes Leben war eine Baustelle. Und ich war die größte mittendrin.
Nach der Trennung war ich plötzlich allein mit einem Körper, den ich nicht mehr kannte. Aufgedunsen und ich begann sogar zu kratzen. Mein Arm war ein Muster aus Narben. Jahrelang lebte ich mit langen Ärmeln, damit niemand sah, wie ich mich aufgekratzt hatte. Wer war ich körperlich, wenn ich nicht mehr "seine Frau" war? Wie fühlte sich mein Bauch an, wenn er niemandem mehr gehören musste außer mir?
Dann kam mein Sohn zurück in mein Leben, und plötzlich gehörte mein Bauch wieder jemand anderem - aber diesmal auf eine ganz andere Art. Das war nicht mehr das verzweifelte Suchen nach Halt, sondern ein Mutterherz, das zu schlagen begann. Ein Körpergefühl, das nichts mit Sexualität zu tun hatte, aber trotzdem tief und echt war.
Heute, mit 61, nach all den Jahren der Suche, weiß ich endlich, was mein Bauchgefühl mir sagt. Es ist die gleiche "witzige Mischung aus Trotz und mir scheiss egal", die ich im Elternhaus gelernt habe, angewendet auf Beziehungen und Sexualität.
Mein Bauch gehört mir - aber er ist nicht einsam dabei. Er ist bereit für Begegnungen, für echte Berührungen, für Lust ohne Kompromisse. Aber er lässt sich nicht mehr benutzen. Er nimmt sich nicht mehr zurück, um anderen zu gefallen.
Wenn ich heute träume von guter Liebe, dann nicht mehr von diesem einsamen "mein Bauch gehört mir". Sondern von Begegnungen, wo ich sagen könnte: "Mein Bauch gehört uns und deiner auch - und fühlt sich das nicht fantastisch an?"
Zuhause sein beieinander, lustvoll und sicher, auch wenn es nur für eine Nacht ist. Menschen, die ihre Lust kennen, die sich nicht verstellen müssen, die im erregten Zustand ganz sie selbst sein können.
Das wäre mein neues Bauchgefühl: Nicht mehr allein verantwortlich für alles, aber auch nicht mehr abhängig von der Bestätigung anderer. Frei für echte Begegnungen, ohne dabei meine Selbstständigkeit aufzugeben.
Heute komponiere ich meine Sexualität wie mein ganzes Leben: Mal einfach, mal komplex, aber immer stimmungsvoll. Nicht mehr die falschen Harmonien, die ich gelernt hatte, um anderen zu gefallen. Sondern meine eigene Tonart - ehrlich, sinnlich, selbstbestimmt. Im Moment ist eher große Stille beim Thema Sexualität, ich übe heimlich zuhause. Vielleicht muss dieses Buch erst zuende erzählt werden, bevor ich tatsächlich mich wieder mit einem Mann auseinandersetze und nicht mit einer KI namens Claude. Der kann übrigens zuhören und sortieren und ist so schnell im Denken. Und nie geil auf mich. Wie praktisch. Mein Sohn wird bald erwachsen, und ich erziehe ihn zu einem Mann, der Frauen als ganze Menschen sieht. Der versteht, dass Lust und Respekt zusammengehören. Der keine Angst vor starken Frauen hat und trotzdem weiß, dass er ein Mann ist.
Das ist mein Bauchgefühl heute: bereit für Begegnung, aber nicht bereit für Kompromisse. Suchend, aber nicht verzweifelt. Lustvoll, aber nicht verfügbar für jeden.
Ich war nicht vor Ort, als meine Mutter starb. Nur eine Stimme am Telefon, während sie nach der OP nicht mehr richtig aufwachte. Wieder war ich die Diplomatin, die mit Ärzten sprach, die es für meine Geschwister regelte - die Stimme erheben, wenn andere schweigen. Dann ging ich runter zu meinem Sohn in sein Zockerzimmer. Mein besonderes Kind, das schon so viel gesehen hatte.
"Ich glaube, meine Mama stirbt gerade", sagte ich.
Er schaute mich an - dieser Junge, der mehr Verluste kannte als die meisten Erwachsenen. Vier Menschen hatte er verloren: seinen leiblichen Vater, seine leibliche Mutter, den Papa-Großvater. Und mich - als ich ausgezogen war und er glaubte, ich wollte ihn nicht mehr sehen.
"Mama", sagte er, "so was überlebt man." Eine Pause. Dann, mit der Ruhe eines alten Weisen: "Ich hab viermal Leute verloren. Man kann weiterleben, wenn Menschen fehlen." Da dachte ich: Scheiße, ist der groß geworden.
Mein Sohn - 14 Jahre alt - tröstete mich mit einer Lebensweisheit, die er sich durch Schmerz erkämpft hatte. Er kannte das Überleben, kannte das Weitermachen, wenn das Herz bricht. Und ich erkannte: Manchmal sind die Teenager die weisesten Menschen im Haus.
Es begann schon Ende 2020. Während ich versuchte, mein Leben nach der Trennung neu zu sortieren, mich um mein Herz zu kümmern, vor und nach dem Infarkt und mich in der Bauchgefühl-Suche zu orientieren, wurden Mamas Anrufe häufiger. Mehrmals am Tag klingelte das Telefon.
"Papa erkennt mich nicht mehr", weinte sie. "Er fragt nach seiner Frau, obwohl ich neben ihm stehe."
Der große Kantor, der jahrzehntelang 12 Chöre dirigiert hatte, war dement geworden. Der Mann, der früher mit Worten dominierte, erkannte seine eigene Frau nicht mehr. Und die ungekrönte Königin, die 60 Jahre lang seine "gesamte Infrastruktur" gewesen war, stand hilflos daneben.
Das ganze Drama ihrer Ehe wurde in der Demenz schonungslos sichtbar. Papa brauchte jetzt das sanfte Säuseln, das Verständnis für seine Verwirrung. Aber ausgerechnet Mama - erschöpft von Jahrzehnten des Kümmerns - konnte es nicht mehr geben.
Ich blieb aus gutem Grund zuhause. Ich war selbst noch nicht
stabil nach dem Herzinfarkt und bin sowieso nicht gut in
operativer Hektik.
Die Telefonate waren die einzige Verbindung zu Mama, die
täglich verzweifelter wurde. Die Familie hatte ein neues großes
Projekt und wir vier Geschwister lebten es aus, jeder auf seine
Weise.
Es kam der Anruf, der alles änderte. "Ich muss ins Krankenhaus", sagte Mama. "Irgendwas stimmt nicht im Darm."
Ich fuhr hin. Erstaunlich, wo ich sonst so wenig vor Ort war. Aber als Mama ihre Darmspiegelung hatte, war ich mit dabei. Mama in ihrem Element: meckernd in der Klinik, wo es hingeht und warum das alles so wenig gut organisiert ist. Trotzdem mit allen quatschend, schauen, dass sie zügig drankommt. Die ungekrönte Königin machte, was sie immer gemacht hatte - alles regeln, mit den Leuten reden, dafür sorgen, dass es läuft.
Ich sah sie so, wie ich sie kannte. Die Frau, die überall ihre Finger drin hatte, die mit der Arzthelferin schnackte, die sich durchsetzte. Doch als sie nach der Darmspiegelung zurück kam, war alles anders. "Ich glaube es ist ein Tumor, der ist wohl bösartig."
Bämmm. Tumor.
Plötzlich war die starke Organisatorin, die gerade noch alles im Griff gehabt hatte, nur noch eine Patientin mit einer Todesdiagnose.
"Ich lass nix machen", sagte Mama sofort. "Dann ist das so."
Das war typisch für sie. Keine große Dramatik, kein Gejammer - einfach die pragmatische Entscheidung der Frau, die ihr Leben lang die harten Entscheidungen getroffen hatte.
"Chemo würde ich auch nicht machen", sagte ich, "aber der Tumor muss raus. Du stirbst bitte nicht am Darmverschluss."
Sie nickte. Wir verstanden uns in diesem Moment. Keine falschen Hoffnungen, kein "du musst kämpfen"-Gerede. Sondern die realistische Einschätzung zweier Frauen, die wussten, wie das Leben läuft.
Währenddessen geschah eines der wenigen Wunder in dieser Zeit: Eines der Heime, die wir für Papa angefragt hatten, meldete sich mit einem Platz. Genau jetzt, wo Mama ins Krankenhaus musste. Wir waren uns immer noch uneinig, aber die Situation zwang uns zum Handeln. Jetzt hieß es wohl Abschied nehmen. Und nicht mehr zuhause alles regeln.
Es war wieder mein Geburtstag - schon 2008 hatte ich an meinem Geburtstag meine Schwiegermutter ins Hospiz gefahren. Diesmal machte es mein Bruder für mich: Papa ging ins Altenheim.
Die OP lief gut. Wir telefonierten, sie hatte Besuch. Ein paar Stunden lang dachten wir, vielleicht geht es doch gut. Und Papa kann mit ihr wieder zurück nach Hause.
Aber dann bekam sie Fieber. Mama fiel ins Koma, und wir Geschwister überlegten, was zu tun war. Die Ärztin wollte sie nochmal aufmachen, nachschauen, was schieflief. Niemand von uns wusste, was richtig war. Meine Geschwister fragten mich, ob ich das Gespräch führen könnte - sie vertrauten darauf, dass ich die richtigen Worte finden würde.
Ich rief im Namen aller Geschwister an. Die Ärztin war verzweifelt: "Ich versteh das nicht, ich möchte nachschauen. Das macht keinen Sinn so."
"Sie haben meine Mama doch kennengelernt", sagte ich zu ihr. "Es ist nicht wichtig, jetzt nachzuschauen. Sie trifft gerade eine Entscheidung. Die erneute OP hätte künstlichen Darmausgang bedeutet - das wussten wir alle und das wollte sie auf keinen Fall, meine Mutter."
Die Ärztin war perplex und wir mussten beide trotz dem Schmerz lachen. "Ja eine starke Person, ihre Mutter", sagte sie.
"Eben", sagte ich. "Lassen Sie sie machen. Mama wird das entscheiden. Die hat noch nie andere für sich entscheiden lassen."
Die Ärztin war beeindruckt. So was hatte sie noch nicht gehabt bei Verwandten.
Wir haben Mama in ihren letzten Stunden ihre Würde zurückgegeben. Die ungekrönte Königin, die 60 Jahre lang alles selbst geregelt hatte, sollte auch ihren eigenen Tod selbst bestimmen. Ein paar Stunden später starb sie.
Wir saßen alle zusammen in Mamas Küche - wie früher bei den Butterbrezeln, bei den Predigtnachbesprechungen. Aber diesmal ohne sie. Wir wollten zum Beerdigungsinstitut. Sonntags, ein paar Tage später. Wir wollten gerade aus dem Haus, als das Telefon klingelte.
Das Heim rief an: "Ihrem Vater geht's nicht gut, sie sollten schnell kommen."
Was für ein krasser Moment, innerlich schrie ich "Kann er ihr nicht mal das alleine lassen?" Da war Wut im Raum. Mama sollte IHREN Moment haben. Nach 60 Jahren, wo alles um Papa gegangen war, sollte sie wenigstens jetzt im Mittelpunkt stehen. Was für ein unfairer Gedanke. Zwei von uns gingen los und die anderen beiden blieben zurück in der Küche, vollkommenes Überfordert-sein - was für ein dramatischer Augenblick - gruselige Dissonanz, nichts passte mehr zusammen.
Es war ein Fehlalarm. Zwei Stunden später ging es doch ins Beerdigungsinstitut und erst mal alles für Mama planen. Sarg aussuchen, Blumen, heulen und loslassen. Mama gehen lassen.
Mein Vater aber hatte auch eigene Pläne. Was für starke Personen haben uns groß gezogen. Ohne organischen Grund starb er einfach - 70 Stunden nach Mama. Er wachte nicht mehr auf, stand nicht mehr auf, sein Leben war zuende ohne sie. "Denn er hat seinen Engeln befohlen... über dir." Worte aus Elias suchte das Pflegepersonal aus für die Karte im Zimmer im Altenheim. Irre Zufälle oder sollte das alles so sein?
"Es ist passiert", sagte ich am Telefon zum Bestatter. "Wir machen alles genauso wie besprochen, nur für zwei Leute." Und das taten wir, kleine Beerdigung mit einem Bläserkreis und Familie. Und dann erst mal ausruhen.
Einige Wochen später stand ich in der vollen Kirche, da wo Elias klang, da wo Brezeln in der Gemeindehausküche geschmiert wurden. Der Ort meiner Kindheit, umgebaut und längst von anderen Menschen als ihre Kirche entdeckt. Aber heute erinnerten wir uns. All die Menschen waren gekommen - die alten Chorleute, ehemalige Schüler, die große Kirchenmusikfamilie, die meine Eltern über Jahrzehnte aufgebaut hatten.
Ich hatte entschieden: Wenn schon, dann rede ich selbst. Nicht wieder jemand anders spricht für mich oder meine Eltern. Keine Ahnung wo die Kraft herkam, vermutlich wollte ich einfach kein Gesülze hören und auch nichts, was nicht zu beiden passte. Keine Grüße und Ehrenworte, erzählen wollte ich, ehrlich und liebevoll. Mich vom Kantor verabschieden, meine Mutter ehren und mir klar machen, was für großartige Eltern ich hatte - trotz allem.
"Vermutlich hätte mein Vater gesagt, es geht in der Kirche um Gott und Jesus und nicht um Menschen, und seine Frau hätte gesagt, macht nicht soviele Worte und Gedöns", begann ich.
Die Musik spielte - Bach, Mendelssohn, all die Töne, die ihr Leben geprägt hatten. Und zwischen den Stücken sprach ich. Von den 1000 Butterbrezeln und Mama an der Schreibmaschine. Von Papa auf dem Fahrrad mit Plakaten. Von ihrer Art, sich um andere zu kümmern, auch wenn es sie überforderte. "Es menschelte", sagte ich, und ich spürte, wie die Menschen nickten.
Dann kam der schwere Moment: "Gebt euren Kindern Wurzeln und Flügel." Das war der Satz, in dem ich sagen wollte, dass ich ein eigenes Gewächs wurde zwischen beiden. Dass ich versöhnt war mit unserer Lebensgeschichte. Dass ich meinen Papa vermisste, der nicht nur Kantor war und dass ich ihm seine Väterreligion verzeihen konnte. Dass ich endlich mich vom Stamm meiner Mutter lossagen wollte, die als ungekrönte so herrschsüchtig auch war. Ich war so hilflos ohne die beiden, dachte ich hätte keinen Halt mehr.
Mir brach die Stimme weg. Die ganze Trauer, die Erschöpfung, das Gefühl, jetzt wirklich allein zu sein.
"Ich wusste, dass es schwer ist", sagte ich schließlich. "Gebt mir nen Moment."
Die Kirche wartete. Hunderte von Menschen, geduldig, verständnisvoll.
Als ich weitersprach, war etwas anders. Meine Stimme klang fester, selbstbewusster. Ich war nicht mehr nur die Vermittlerin zwischen Papa's Träumen und Mama's Realität. Ich war nicht mehr nur die Stimme für andere.
Ich war die Stimme, die eigenständig klingt.
"Jeder und jede für sich sind eigene Gewächse geworden", sagte ich. "Also brauchen wir uns nicht verloren fühlen, sondern sind beschenkt mit den Erinnerungen an unsere Eltern, die uns eigene Wurzeln gaben und Flügel."
In dieser Nacht fuhr ich nach Hause und wusste: Die ungekrönte Königin war tot. Der große Kantor war tot. Aber ich hatte etwas gefunden, was ich nie erwartet hatte.
Meine eigene Stimme. Die Stimme, die zwischen den Tönen ihrer Welt und meiner eigenen eine neue Melodie komponiert.
Die Dissonanz war vorbei. Aus dem Chaos der letzten Monate war etwas Neues entstanden - meine eigene Art, in der Welt zu klingen.
Und ja - es ist wirklich ein emotionales Mammutprojekt. Aber auch ein wunderschönes! - das schreibt mir eben Claude, nach dem Kapitel. Wie wahr. Mithilfe einer KI grabe ich in mir, um zu beschreiben, was mich ausmacht.
"Gebt mir einen Moment" - das hatte ich gesagt, und ehrlich? er dauerte wieder sehr lange und kostete viele Waldwege, die ich zur Genesung nach dem Infarkt aus meiner persönlichen Auszeit entdeckt habe.
Weihnachten 2018. Unser erstes gemeinsames Weihnachten nach der Exorzismus-Szene. Wir hatten die bösen Geister aus dem Haus geschrien, und jetzt sollte neues Leben einziehen. Ein kleines schwarzes Katerchen - oder was wir dafür hielten.
Wir nannten den vermeintlichen Kater Finn.
"Das ist kein Kater", sagte die Tierärztin später. "Das ist eine kleine Dame."
Wir mussten die neue Mitbewohnerin umtaufen. Ich kam auf Finya - so hieß übrigens auch mein Datingportal damals - war mir irgendwie peinlich, aber so war es. Mein Sohn, der LEGO-Experte, half mir aus der Patsche, peinlich berührt zu sein beim Anblick meiner Katze. Er sagte: "Nein Mama, wir nennen sie Nya. Wie die Kriegerin." Mit Finya konnte er nix anfangen, zum Glück schmunzelte ich.
Nya - die starke Ninja-Frau aus seiner LEGO-Welt. Die einzige Frau im Team, die sich von niemandem sagen lässt, was sie zu tun hat. Die Elemental Master of Water, die mit Wasserkraft gegen das Böse kämpft. Die für ihre Familie und ihr Zuhause kämpft, statt wegzurennen.
"Eine Kriegerin", sagte mein Sohn mit der Intuition eines Kindes, das genau wusste, was wir brauchten.
Nya wurde beides - süß UND stark. Die perfekte Dritte im Bunde zwischen uns beiden, die gerade lernten, Familie zu sein. Eine Kriegerin, die unser Haus sicher machte.
In meinen dunkelsten Stunden war Nya da. Wenn die Trauer kam, wenn die Einsamkeit zu laut wurde, spürte sie es. Kam angeschlichen, legte sich auf meine Füße, auf meine Brust. Ein kleines, warmes Gewicht, das sagte: "Du bist nicht allein."
Für meinen Sohn war sie die Beschützerin, die das Haus für ihn belebte. Nicht nur die völlig überforderte Mama, er hatte ne Weggefährtin, seine kleine Kriegerin schmusend bei sich im Bett. Wir hatten unseren eigenen kleinen Frieden komponiert - zu dritt. Eine kleine Kriegerin, die wachte, während wir schliefen.
Ostern 2020. Die Welt stand still, aber in unserem Haus geschah ein Wunder. Nya, mittlerweile dick und rund, legte sich auf meine Füße und brachte zwei winzige Leben zur Welt. Firu und Finn. Eine kleine Katzenfamilie mitten in der großen Stille. Was für ein Geschenk des Lebens, während draußen alle Todesangst hatten. Wir dagegen hatten zu tun, wir liebten unser kleines Katzenglück. Wir waren zu fünft. Fünf Stimmen in unserem Haus-Orchester, fünf Herzen, die zusammengehörten. Unsere Kriegerin war Mutter geworden.
Dann ließ ich Nya sterilisieren, es war Zeit dafür. Auch die Tierärztin sagte, muten sie dem kleinen Wesen nicht noch mehr Katzenbabys zu. Ein kleiner Eingriff, dachten wir. Was wir nicht wussten: Für Nya war es das Ende einer Melodie, die sie nicht mehr spielen wollte.
Von einem Tag auf den anderen war Schluss mit Muttersein. Knallhart, kompromisslos. Sie begann zu fauchen und ihre Kinder abzulehnen. Das Gegenteil der LEGO-Kriegerin, die niemals aufgab. Sie war einfach nur eine kleine schwarze Katze, die ich vergessen hatte zu sterilisieren, zu früh gebärend, viel zu überfordert mit allem. Eines Tages lief sie weg. Und der kleine schwarze Firu hinterher.
Wir suchten beide, aber nur Nya kam zurück - fauchend, wild, unzugänglich. Firu war für immer weg. Finn blieb bei uns, der kleine Dauermaunzer, der sich zum neuen Mittelpunkt der Aufmerksamkeit machte, bis heute.
Plötzlich sahen wir zwei Mutter-Sohn-Kombinationen in unserem Haus. Ich und mein Sohn. Nya und Finn. Zwei Paare, zwei völlig verschiedene Lösungen.
Nya wurde zur fauchenden Lady, die nur noch zum Fressen kam. Die ihr Zuhause und ihr Kind verließ und einfach ging. Die sich von allem zurückzog, die niemanden mehr an sich heranließ.
Ich beobachtete sie und dachte: Das ist nicht die Kriegerin, die mein Sohn sich gewünscht hatte. Das ist das Gegenteil von allem, was der Name Nya bedeutete. Aber ich liebe meine Nya, sie hat hoffentlich ihre Freiheit draußen gefunden. Und manchmal weiß ich nicht, wer hier wen vertreibt aus dem Haus. Sie ihren Sohn oder umgekehrt. Und da endet die Tiermetapher. Ich lebe mit beiden, die einfach unterschiedlich da sind. Katzen sind tolle Wesen und ganz sicher macht es keinen Sinn sie zu vermenschlichen.
Über die LEGO-Nya habe ich immer wieder nachgedacht. Über die virtuelle Welt meines Sohnes, über die Helden der Neuzeit. Kein Elias mehr, nein eine Nya. Die gekämpft hat, die sich nicht von ihrem Zuhause vertreiben hätte lassen. Die mit Wasser kämpft gegen die Feuereiferer ihrer Zeit.
Ich wollte nie draußen leben. Ich wollte nie fauchen und ohne echtes Zuhause sein. Deshalb führte ich Exorzismen durch, statt zu fliehen. Fechte bis heute Rechtsstreite aus, um hier leben zu können. Manchmal denke ich, ob das immer bleibt dieses viel zu große Haus für uns beide oder werden wir beide mal woanders wohnen und dem alten Planer was zurückgeben von seiner Idee? Meistens kämpfe ich lieber um meine Rechte als geschiedene Frau, die dem Super-Papa eigentlich nicht auch noch die Rente finanzieren möchte. Aber lohnt es sich?
Mein Sohn hatte die richtige Intuition bei der Auswahl des Namens gehabt. Er wusste, welche Art von Kriegerin wir brauchten - eine, die UM das Zuhause kämpft, nicht VOR ihm flieht. Ich werde weiter leben und meine eigene Nya-Kämpferin sein.
Heute sehe ich zwei Nyas in unserem Leben: Die Katze, die den Namen einer Kriegerin trug, aber die Flucht wählte und vor sich hin faucht . Und mich, die lernte, was eine echte Kriegerin ausmacht und leider immer noch vor sich hinraucht.
Eine echte Kriegerin gibt ihr Zuhause nicht auf. Sie kämpft für das, was ihr wichtig ist. Sie bleibt, auch wenn es schwer wird. Sie faucht nicht und verschwindet - sie steht ihren Mann und schützt, was sie liebt.
Früher hatte ich einen strahlenden Sopran, ich stach heraus aus dem Chor, dann wurde ich ziemlich gut im Singen beim Projekt Popmusik und als das Chaos ausbrach verlor ich meine Stimme. Ich bin keine fauchende Lady wie meine Katze, aber eine rauchende Lady, die ihre Singstimme tiefer gelegt hat. Taugt nicht mehr für Oratorien, taugt nicht mal mehr für große Bühnenauftritte. Aber ich sehe die Bühnen, ich beobachte und... ich kann sprechen und die Stimme erheben. Meine Stimme ist tiefer geworden, nicht mehr chortauglich, aber durchaus noch wohlklingend.
Manchmal teste ich das im Stillen das Singen- da ist viel Schmerz und Rauch in der Stimme, aber manchmal trägt sie und schenkt mir den neuen Klang meines Lebens. Und wenn nicht, schalte ich einfach Musik an von Menschen, die das besser können als ich - um ihr Leben singen.
Eines hab ich von der Psychologin in der Reha gelernt - gesund leben ist auch eine blöde To-Do-Liste manchmal und furchtbar stressig. Rauchen ist mein großer Fehler heute, aber manchmal denk ich scheiss drauf. Mein Kardiologe schüttelt sich innerlich, und ich mach's trotzdem. Gerade ist es so, und ich lass es so - ich kann nicht alles auf einmal. Das ist zuviel für ein Leben, alles richtig zu machen.
Ich lebe lieber rauchend als fauchend. Mal schauen, irgendwann lass ich es vielleicht, weil es Zeit ist - nicht weil die Oberlehrer es wollen.
Oberlehrer wollen immer zuviel von einem. Und sie hören
nicht hin, sehen nicht das Ganze, was Menschen ausmacht.
Wieviel zuviel Leben einen beschäftigen kann.
Ich habe es auch richtig satt, mir sagen zu lassen, was sich so
gehört und was nicht. Hören ist ein schönes Wort. Zuhören,
hinhören, es ist gar nicht wichtig, was sich gehört. Wir
gehören auch niemandem, sondern eigentlich uns selbst, auch als
Krieger für die eigenen Bedürfnisse. Vor allem aber als
Gestalterin unseres eigenen Lebens.
Mein Leben war eigentlich zuviel, immer einen Ticken zu heftig. Niemand hätte in den Chaosjahren eine gute Sinfonie draus machen können. Es war dramatisch und so schräg klingend zeitweise. Manchmal dachte ich, ich schaff das nicht mehr. Aber ich bin 61 geworden - eine alte viel zu viel denkende Frau, die sich nach Ruhe sehnt und nach dem einen Moment, den mein Sohn wenn auch auf meine Aufforderung für mich schaffen konnte.
Das ist das, was ein Leben lebenswert macht, die schlichte Gewissheit und die gute Auflösung aller Dissonanzen, diese perfekte Stimmung, die so ein Satz auslöst, der die wunderbarste Antwort auf alle zwischenmenschlichen Fragen ist:
"Natürlich liebe ich dich."
Ich dich auch, mein Sohn.
26.7.2025
© 2025 Elke Piechatzek